Einzigartiges Projekt für Schulen: Jüdische Geschichten bergen
Zehn Innsbrucker Zeitzeugen in Videointerviews: Erinnerungen an das Naziregime und die Flucht stehen nun erstmals Schulen auf einer Lern-Website zur Verfügung.
Von Brigitte Warenski
Innsbruck — Kurz nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im März 1938 wurde Abraham Gafni (geboren als Erich Weinreb), der die Pradler Volksschule besuchte, wegen seiner jüdischen Herkunft vom Lehrer geschlagen. Ähnlich erging es Dorli Neale, die später mit einem Kindertransport nach England flüchten konnte. Sie wurde wegen ihrer jüdischen Wurzeln im Gymnasium Sillgasse in die letzte Bank versetzt und von Lehrern und Mitschülerinnen von der Klassengemeinschaft ausgeschlossen.
Im österreichweit einzigartigen Schulprojekt „Alte Heimat/Schnitt/Neue Heimat" (Teil des Österreichprojekts _erinnern.at_) erzählen zehn Zeitzeugen mit Innsbrucker Wurzeln über ihr Leben in Österreich vor 1938, über Verfolgung und Vertreibung durch die Nationalsozialisten, ihre Flucht und ihr Leben in England und Israel. „Wir wollten die Geschichten von jüdischen Menschen mit einem regionalgeschichtlichen Schwerpunkt bergen. Erfahrungen aus der Unterrichtspraxis zeigen, dass sich Schüler viel lieber mit Geschichte auseinandersetzen, wenn sie näherrückt. Dann wird Geschichte zu etwas, was sie selbst betrifft", erzählt Historikerin Irmgard Bibermann, die die neue Lern-Website alte-neue-heimat.at erstellt hat.
Lange Zeit haben laut Bibermann die Erfahrungen jüdischer Verfolgter während der NS-Zeit niemanden im Nachkriegs-Österreich interessiert. Erst ab den späten 1980er-Jahren begannen engagierte Historiker die nationalsozialistische Vergangenheit der Region zu beforschen und sich nicht nur für die Täter, sondern auch die Opfer zu interessieren. Thomas Albrich rief 1992 das Forschungsprojekt „Biografische Datenbank zur jüdischen Bevölkerung in Tirol und Vorarlberg im 19. und 20. Jahrhundert" ins Leben und gab 1999 mit Projektbeteiligten den Band „Wir lebten wie sie. Jüdische Lebensgeschichten aus Tirol und Vorarlberg" heraus. „Hier kamen auch Zeitzeugen zu Wort. Videoaufzeichnungen fehlten aber für die jüdische Geschichte in Tirol bis zum Projekt ,Alte Heimat/Schnitt/ Neue Heimat' völlig", sagt Bibermann. Wichtig war beim neuen Projekt nicht nur, den Blick auf die Nazizeit zu werfen. „Eine Reduktion der Biographien auf die NS-Zeit würde den Zeitzeugen als aktive GestalterInnen ihres Lebens nicht gerecht werden. Die Kurzfilme erschließen das Leben der Interviewten vor, während und nach dem Holocaust", erklärt Bibermann.
Der Startschuss für die Lern-Website erfolgte 2010, als der Historiker und Leiter des Gesamtprojekts, Horst Schreiber, erstmals mit seinem Team nach Israel und England reiste, um Interviews mit den Zeitzeugen zu führen. „Ich habe drei Jahre an der Website gearbeitet, um sie für Schüler ab der vierten Klasse Unterstufe als Lernmaterial vorzubereiten", sagt Bibermann. Mit diesem Projekt „wollten wir von _erinnern.at_ Tirol die letzte sich bietende Gelegenheit wahrnehmen, die Erfahrungen von Menschen jüdischer Herkunft der nächsten Generation weiterzugeben und im kulturellen Gedächtnis zu verankern. Sie können nur noch für eine ganz kleine Weile über ihre unmittelbaren Erfahrungen berichten, die jüngsten von ihnen sind natürlich bereits über 80 Jahre."
Neben den zehn biografischen Porträts ging es der Historikerin aber auch darum, in Fotos, Dokumenten und Kurzfilmen Themen wie die Flucht aus Österreich und das Leben in der neuen Heimat zu erschließen. Ein Begleitheft für Nutzer, ein Gesamtglossar und zwölf Lernmodule mit detaillierten Unterrichtsvorschlägen ergänzen das Materialienangebot.
Weitere Informationen auf www.alte-neue-heimat.at