Geschichte eines verdrängten Unrechts: „Jud“ von Georg Thiel
Wien (APA) - Das Gedenkjahr 2018 steht im Zeichen des Erinnerns. In Georg Thiels Roman „Jud“ setzt der Moment des Erinnerns im Leben des Fot...
Wien (APA) - Das Gedenkjahr 2018 steht im Zeichen des Erinnerns. In Georg Thiels Roman „Jud“ setzt der Moment des Erinnerns im Leben des Fotografen Titus Strings im Jahr 1958 ein: Als er beruflich von Manchester nach Brüssel reist, um die Weltausstellung zu fotografieren, erleidet er im Österreich-Pavillon einen Nervenzusammenbruch. Was folgt ist eine Reise nach Wien, wo seine Jugend 1938 abrupt endete.
Nach „Im Labyrinth des Unglücks“ (2010) ist „Jud“ der zweite Roman des 1971 geborenen Autors und Kurators Georg Thiel. Auf 220 Seiten entspinnt er die tragische, aber stets von Humor gestützte Geschichte eines wenig erfolgreichen Fotografen, der seinen Brüssel-Auftrag dankbar annimmt, um für ein paar Tage aus seiner unglücklich gewordenen Beziehung zu entfliehen. In Brüssel angekommen, trifft Titus auf den redseligen Redakteur Rupert, mit dem gemeinsam er über die Weltausstellung berichten soll. Dessen wahnwitzig prahlerischen Ausführungen über Gott und die Welt hat der Ich-Erzähler immer wieder Paroli zu bieten, und so streifen die beiden mit arroganter Distanz durch die Pavillons der Sowjetunion, des Vatikan und schließlich - Österreichs.
Dort wird es Titus plötzlich zu viel; während eines Konzerts von Schuberts „Winterreise“ wird er von seinen Gefühlen übermannt und landet wimmernd und heulend unter einer Vitrine. Als Titus Rupert und der eilig herbeigelaufenen Pavillon-Mitarbeiterin Erika schließlich seine Geschichte erzählt, überreden sie ihn, nach Wien zu reisen, um sich dort seinen Dämonen zu stellen. Und tatsächlich dauert es nicht lange, bis Titus in Wien auf ein Foto stößt, das einen jungen Burschen zeigt, der unter der Aufsicht eines Nazi-Schergen das Wort „Jud“ an eine Hauswand malen muss. Titus erkennt sich selbst und begibt sich auf die Suche nach dem Täter, die ihn bis in den verschlafenen Ort Bruchleithen führt, wo er seinen Peiniger vermutet.
„Jud“ ist ein Roman, der anhand eines Schicksals das Trauma einer ganzen Generation aufarbeitet. Als jemand, der den Nazis rechtzeitig entkommen ist, hat Titus seine Geschichte im englischen Exil verdrängt. Die Rolle des großen Rächers steht ihm nicht, und dennoch folgt er seinem innersten Drang, 20 Jahre danach für Gerechtigkeit zu sorgen. In beiläufigen und nie vollständigen Rückblenden gibt Georg Thiel Einblick in die Geschehnisse des Jahres 1938, erzählt von der Flucht nach England und dem dortigen Militärdienst, während Titus‘ Eltern ihr Glück in Palästina suchen (und nicht finden). „Jud“ ist aber auch eine Geschichte von Freundschaft und Zusammenhalt. Menschen, die Titus eben erst kennengelernt hat, erkennen sein Trauma und unterstützen ihn bedingungslos auf seiner schwierigen Reise. Georg Thiel hat einen behutsamen Roman vorgelegt, der deutlich macht, welch große Auswirkungen scheinbar kleine Gesten nach sich ziehen können.
(S E R V I C E - Georg Thiel: „Jud“, Braumüller Verlag, 220 Seiten, 22 Euro. Buchpräsentation am 22. Februar, 19 Uhr im Jüdischen Museum Wien, Dorotheergasse. Anmeldung unter Tel. (01) 535 04 31-110 oder E-Mail: events@jmw.at)