Autor Joshua Cohen: Ein Lob der Individualität im digitalen Zeitalter
Berlin (APA) - Ist ein 750-Seiten-Roman in Zeiten minimaler Aufmerksamkeitsspannen und kurzer Text-Messages nicht anachronistisch? Ganz und ...
Berlin (APA) - Ist ein 750-Seiten-Roman in Zeiten minimaler Aufmerksamkeitsspannen und kurzer Text-Messages nicht anachronistisch? Ganz und gar old fashioned? - „Aber ganz und gar nicht!“, entrüstet sich Joshua Cohen. Der 37-jährige US-Autor, der sich in seinem „Buch der Zahlen“ viele Gedanken über die Zukunft des Lebens und Lesens im digitalen Zeitalter macht, scheint über die Frage ehrlich empört.
„Wir leben in einer Zeit, in der Menschen Stunden um Stunden, nein Tage um Tage, zu Hause sitzen, um sich am Stück alle Folgen oder gleich alle Staffeln einer Fernsehserie anzuschauen. Wir erleben gerade eine Explosion von Fan Fiction - Menschen, die etwas sehen oder lesen und dann viel Zeit dafür aufbringen, diese Abenteuer selbst weiterzuspinnen. Weil der Autor oder das Studio ihnen nicht schnell genug neue Sequels liefert, schreiben sie ihre eigenen“, gibt Cohen zu bedenken. „Die Behauptung, dass Menschen sich immer weniger konzentrieren können, stimmt nicht. Sie ist politisch motiviert, um Menschen immer mehr zu entmündigen. Man will sie manipulieren und ihnen Angst machen.“ Und schon ist man mitten im Thema seines Buches.
In seinem „Buch der Zahlen“, das bei seinem Erscheinen vor drei Jahren in den USA euphorisch aufgenommen wurde, wird ein erfolgloser Autor namens Joshua Cohen als Ghostwriter für die Biografie des Internetmilliardärs Joshua Cohen engagiert. Wer über den echten Autor Joshua Cohen recherchiert, stößt übrigens rasch ebenfalls auf einen Doppelgänger, einen fast drei Jahrzehnte älteren politischen Philosophen, der Professor an der Stanford University und am MIT war. „Er arbeitet jetzt für Apple“, lacht sein Namensvetter. „Einmal wurde irrtümlich ein Foto von ihm verwendet, um einen Artikel über mich zu illustrieren. Früher bekam er manchmal Post, die für mich bestimmt war. Aber ich bin auch mit drei oder vier Joshua Cohens verwandt. Es ist ein sehr verbreiteter Name.“
Der erfundene Joshua Cohen, der „Große Vorsitzende“, der nun an den Hebeln der Macht sitzt, ist ein Internetpionier, wie er im Buche steht. Das „Buch der Zahlen“ vermittelt spürbar die Faszination für jene Zeit, in der das Buch des Lebens mittels binärer Codes buchstäblich neu geschrieben wurde. „Um ehrlich zu sein, finde ich das Internet, mit dem ich aufgewachsen bin, viel interessanter als das heutige. Ich habe damals selbst ein bisschen programmiert, aber ich habe keine Hardware in meiner Garage zusammengebaut. Heute denken wir ja, ein Computerfachmann ist ein Kid mit Headphones, das vor einem Bildschirm sitzt und an einem Smoothie nippt, aber früher haben diese Leute mit Kabeln und Röhren hantiert und an Platinen herumgelötet“, erzählt Cohen im Gespräch mit der APA.
Viel Recherche steckt in seinem Roman, aber auch viel Überlegung zu gesellschaftlicher Moral und technischer Möglichkeit. Nach Cohen hat die technologische Revolution in der US-Gegenkultur der 1960er ihren Ausgang genommen. Aus sozialen Utopien seien Techno-Dystopien geworden; dass hehre Ideen der Wissenschaft vom Staat gekapert wurden, sei ein verbreitetes Phänomen.
Erstaunlich, dass ein so technik-affiner Autor wie Cohen dennoch von den Vorzügen des handschriftlichen Arbeitens am Manuskript schwärmt und auch vom kollektiven Schreiben an einem gemeinsamen, permanent upgedateten Text als Zukunft des Schreibens nichts hören will. „In den 60ern haben die Leute in den Kommunen freien, kollektiven Sex propagiert und geglaubt, dass so die Zukunft aussehen werde - und was wurde daraus? Dass etwas von genau einem geschaffen wird, der sich sehr um etwas bemüht, gehört zum grundlegenden Wesen des Menschen. Es geht um Wettbewerb. Es ist geradezu biologisch in uns eingeschrieben, uns als Individuen zu verhalten.“
Derzeit unterrichtet Joshua Cohen als Samuel Fischer Gastprofessor für Literatur an der Freien Universität Berlin rund 50 Studenten. „Es geht darum, wie Information in einen Roman Eingang findet.“ Häufiger als im Hörsaal ist er derzeit jedoch in den Fliegern von Easy Jet anzutreffen. In diesen Wochen sind drei seiner Bücher in drei verschiedenen Sprachen erschienen: in Frankreich der Erzählband „Vier neue Nachrichten“, in Spanien sein bisher jüngster Roman „Moving Kings“ und auf Deutsch das „Buch der Zahlen“.
Mit Europa verbindet Cohen, der nach einem Kompositionsstudium an der Manhattan School of Music seine geplante Pianistenkarriere bald ad acta legte („Sehen Sie meine Hände an: viel zu kurze Finger für wirklich gutes Klavierspiel!“), viel: Seine Vorfahren stammen aus Deutschland und Ungarn, 2001 bis 2007 arbeitete er als Osteuropakorrespondent in Berlin. Die österreichischen Literaten Karl Kraus, Peter Altenberg, Robert Musil, Hermann Broch sind ihm vertraut, in Kürze gibt er gemeinsam mit Kollegen eine Anthologie über Elias Canetti heraus. An Peter Handke schätzt er, dass er einer von ganz Wenigen sei, „die einem Satz Beachtung schenken und nicht der Welt“.
Immer wieder werde er gefragt, ob er sich denn mehr als privilegierter männlicher Weißer oder als Jude verstehe, erzählt Cohen. Das mache ihn ratlos. „Wenn ich mit vorgehaltener Pistole eine Identität wählen müsste, dann wären das: Bücher!“ Die Frage, ob er sich als US-Amerikaner für seinen derzeitigen Präsidenten schäme, lässt allerdings das Gespräch so enden, wie es angefangen hat: etwas streitbarer.
„Genauso gut könnte man fragen: Schäme ich mich für die viele hundert Jahre unserer Haltung gegenüber Haiti, lange bevor er es ein Shithole-Country genannt wurde? Ich hatte nie diese Krankheit, dass man auf seine Führer stolz sein sollte. Ich habe nie jemandem vertraut. Viel, was nun diskutiert wird, betrifft eigentlich Trumps Manieren. Viele Menschen, die gute Manieren hatten, haben dennoch schlechte Dinge gemacht. Trumps Vorgänger Obama hält jetzt Reden für Goldman Sachs und hat soeben einen 65 Mio. Dollar Buchdeal mit meinem Verleger Random House abgeschlossen. Wenn sein Buch sich nicht verkauft, können die in den nächsten Jahren keine neuen Romanmanuskripte mehr annehmen! Und woher kommt das Geld? Von Bertelsmann, denen Random House gehört! Also: Schäme ich mich für einen multinationalen Verlagsriesen, der so etwas macht? Sollte ich wohl!“
(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - Joshua Cohen: „Buch der Zahlen“, Schöffling & Co, 750 S., Aus dem Englischen von Robin Detje, 32,90 Euro; Einzige Österreich-Lesung: Montag, 19. Februar, 19.30 Uhr, im Literaturhaus Salzburg, Moderation: Wolfgang Görtschacher, Deutsche Lesung: Peter Arp; www.joshuacohen.org)
(B I L D A V I S O – Pressebilder stehen unter http://www.joshuacohen.org/images/ zum Download bereit.)