Subjektiv, aber nicht fake: Geschichtserkundung in der Exnergasse

Wien (APA) - Die Geschichtsschreibung, das war für den Kulturtheoretiker Siegfried Kracauer eine Tätigkeit irgendwo zwischen Wissenschaft un...

Wien (APA) - Die Geschichtsschreibung, das war für den Kulturtheoretiker Siegfried Kracauer eine Tätigkeit irgendwo zwischen Wissenschaft und Kunst. Ein schmaler Grat, notwendig subjektiv und trotzdem mehr faktisch als „fake news“. In einer ab morgen, Donnerstag, geöffneten Ausstellung in der Kunsthalle Exnergasse im Wiener WUK erkundet man eine solche Historiografie mit den Mitteln der Gegenwartskunst.

Zehn künstlerische Positionen bilden den Parcours durch einzelne Episoden der Geschichte, nach Kracauer „Löcher in der Wand“ (so auch der Ausstellungstitel), die definierend sind für die Perspektive des Zurückschauenden. „Kunst kann das besonders gut darstellen“, meint Kuratorin Gudrun Ratzinger beim APA-Rundgang, „weil sie häufig ihre eigenen Methoden mitreflektiert.“ Sie weiß, dass sie nicht abbildet, sondern einen sehr spezifischen, oftmals widersprüchlichen Zugang legt zu dem, was man unter historischen Fakten versteht.

So erstellt das derzeit stark nachgefragte Künstlerkollektiv Slavs and Tatars Zeitschriften, die sich abseits von Orient-Okzident-Konventionen den Parallelen etwa von iranischer Revolution und polnischer Solidarnosc widmen und dabei gängige Bilder von linearer Geschichte innerhalb homogener Kulturkreise aufbrechen. Dazu liefern die Künstler auch gleich ein zentralasiatisches Möbelstück, auf dem man sich durchaus auch in großen Gruppen zur gemeinsamen Lektüre niederlassen kann.

Zentral im Raum hat Kathi Hofer ein klassisches Büro-Ensemble eingerichtet, auf dem verpackte Geschenke, Büroartikel und Kaffeetassen einen wirtschaftstheoretischen Text von John Maynard Keynes nacherzählen. Dessen Überlegungen zu langfristigen Erwartungen am Aktienmarkt, die Idee, dass nicht der eigentliche Erfolg eines Unternehmens entscheidend ist, sondern die Fähigkeit, Anleger bei Laune zu halten, werden über die Zitate auf den Tassen, aber auch über das süße Versprechen der Päckchen, von der abstrakten Ebene der Ökonomie mitten in den Arbeitsalltag verpflanzt.

Einem Stück US-amerikanischer Zeitgeschichte, das im Lichte der heutigen Politlandschaft so ewig entfernt wie zeitlos wirkt, hat sich das Künstlerduo Ubermorgen eingeschrieben: 2000, im Präsidentschaftswahlkampf zwischen George W. Bush und Al Gore, starteten sie die Online-Plattform (v)ote auction, auf der Wahlberechtigte ihre Stimme zum Kauf anbieten konnten. Dass es sich um eine Kunstaktion handelte, wurde gut unter Marketingsprech getarnt, CNN widmete der Initiative, die sich rühmte, Demokratie und Kapitalismus in die perfekte Symbiose gebracht zu haben, eine ganze Stunde voller Diskussionen. Nicht zuletzt verdeutlicht die Dokumentation des Projekts, wie stark sich auch der Fernsehdiskurs seit 2000 verändert hat. Ubermorgen wurde für die Aktion übrigens angeklagt und verurteilt.

Einen etwas anderen Blickwinkel hat die Kuratorin für jenes Stück Geschichte gewählt, „ohne das es nicht geht“: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg werden durch die verfremdete Linse der französischen Künstlerin Tatiana Lecomte angeschaut. 80 Dias präsentieren in loser Folge Bilder ein und desselben Ortes: El-Alamein, eine ägyptische Kleinstadt, in deren unmittelbarer Nähe zwei wesentliche Schlachten stattgefunden haben.

Mit dem pseudo-dokumentarischen Charakter ihres Materials spielt Lecomte ebenso bewusst, wie der bekannte libanesische Künstler Walid Raad nur wenige Meter daneben. Die frühe Arbeit „The Dead Weight of a Quarrel Hangs“ gehört noch nicht zu seinem berühmt gewordenen, fiktionalen Archiv „The Atlas Group“, trägt aber bereits viele seiner Insignien: Die Konstruktion einer scheinbar historischen Welt, in deren Künstlichkeit und überhöhter emotionaler Zugkraft von den wirklichen Traumata eines bürgerkriegsgeschüttelten Landes umso authentischer erzählt werden kann.

(S E R V I C E - Ausstellung „Löcher in der Wand. Anachronische Annäherungen an die Gegenwart.“ Von 8. Februar bis 24. März, Kunsthalle Exnergasse, WUK. https://www.wuk.at/kunsthalle-exnergasse)