Die Tragödie eines geizigen Mannes
Ridley Scott rekonstruiert in „Alles Geld der Welt“ die Entführung des Enkels von Jean Paul Getty, des 1973 reichsten Menschen der Welt.
Von Peter Angerer
Innsbruck –Gefangen wie Charles Foster Kane in seinem Schloss Xanadu, möchte sich Jean Paul Getty (Christopher Plummer) einem Menschen anvertrauen und wählt dafür seinen Sicherheitschef Fletcher Chase (Mark Wahlberg). Geld verdirbt den Charakter der Menschen und in besonderer Weise jenen von Ehefrauen, der sich auf abscheuliche Weise bei Scheidungsvereinbarungen bemerkbar macht. Nach den Erfahrungen mit fünf Ehefrauen ist Getty zum Misanthropen geworden, der sein Herz nur noch an Dinge hängt, die „nie enttäuschen“.
Wenn er gezwungen ist, in einem Hotel abzusteigen, kauft er sich ein Waschmittel, um persönlich seine Wäsche zu säubern und Reinigungsgebühren zu sparen. In seinem englischen Schloss hat er eine Telefonzelle installieren lassen, in der Besucher oder Familienmitglieder ihre Ferngespräche führen müssen. Ein Diener wechselt Geldscheine gegen passende Münzen. Dieser Öl-Tycoon und Milliardär stellt als Geizkragen selbst Charles Dickens’ Ebenezer Scrooge in den Schatten. Wie der 88-jährige Christopher Plummer diesen unglaublichen Charakter spielt, der langsam in den eisigen Höhen des Reichtums an seiner Verbitterung erfriert, ist eine seltene Kino-Glückserfahrung. Die verdanken wir den Enthüllungen über das angebliche sexuelle Fehlverhalten Kevin Spaceys, mit dem Ridley Scott seinen Film „Alles Geld der Welt“ bereits fertiggestellt hatte.
Wegen dieses Skandals und aus kommerziellem Kalkül drehte der britische Regiestar vor dem US-Kinostart im vergangenen Dezember alle Spacey-Szenen noch einmal mit Plummer, wobei es exakt um 16 Minuten ging. Im Endprodukt sieht Plummers Anteil so aus, als würde er wie einst Anthony Hopkins in „Das Schweigen der Lämmer“ den kompletten Film dominieren.
1973 flaniert Gettys Enkel Paul (Charlie Plummer, eine Namenskoinzidenz) durch die Straßen Roms, schäkert mit einigen Prostituierten, verlangt, um das Spiel in die Länge zu ziehen, Rabatt und wird schon in einen VW-Bus gezogen. Anderntags erhält Pauls Mutter Gail (Michelle Williams) einen Anruf mit einer Lösegeldforderung über 17 Millionen Dollar, andernfalls könne sie ihren Sohn nur noch als Leiche wiedersehen.
Aber Gail sagt nur „Das soll wohl ein Scherz sein?“ und legt auf. Gail hat sich vom Getty-Clan gelöst, mit der Miete für die römische Wohnung ist sie zwei Monate im Rückstand und irgendwann hat Paul wohl angedeutet, mit einer vorgetäuschten Entführung sein Taschengeld aufzubessern. Tatsächlich hat die kalabrische ’Ndrangheta mit Entführungen ein neues Geschäftsmodell eröffnet.
Damit kommt wieder Fletcher Chase ins Spiel. Der ehemalige CIA-Agent soll die italienische Polizei beim Aufspüren der Entführer und ihres Opfers beraten, Lösegeld ist allerdings nicht zu erwarten, denn „wenn ich nur einen Cent bezahle“, rechtfertigt sich der reiche Mann, „habe ich 14 entführte Enkel“. Getty widmet sich lieber den kostbaren „Dingen“ aus Antike und Renaissance, die aus ähnlichen Quellen stammen, die Pauls abgeschnittenes Ohr bei einer Zeitungsredaktion deponieren.
Mit „Alles Geld der Welt“ zeigt sich Ridley Scott, mittlerweile auch schon 80 Jahre alt, in der Form seiner Glanzzeit, als er mit Filmen wie „Blade Runner“ oder „Alien“ das Science-Fiction-Kino erneuerte. Auch seine Rekonstruktion der Getty-Entführung erweitert das Genre des Thrillers um Abschweifungen in den Kunst- und Wirtschaftskrimi, indem er die Abgründe eines verstörten und zerrissenen Charakters aufsucht.