Veronika Schuchter im Gespräch: Wie männlich ist die Literatur?
Das Innsbrucker Zeitungsarchiv beschäftigt sich mit dem Geschlechterverhältnis in der Literaturkritik. Ein Gespräch mit der Germanistin Veronika Schuchter.
Innsbruck – Wenn die Germanistin Veronika Schuchter im Gespräch mit der TT von ihren Forschungsergebnissen berichtet, dann schlägt sie keinen anklagenden Ton an. Schuchter, Jahrgang 1984, steht für eine Frauengeneration, für die Gleichberechtigung eine selbstverständliche Forderung ist. Mit ihrem Forschungsprojekt an der Universität Innsbruck zeigt sie, warum Literatur und Literaturkritik noch nicht weiblich genug sind.
Frau Schuchter, Sie sind Germanistin und beschäftigen sich in Ihrem Forschungsprojekt mit dem Thema „Gender in der Literaturkritik“. Was genau erforschen Sie?
Veronika Schuchter: Ich werte statistisch aus, welche Bücher in überregionalen Zeitungen besprochen werden, und ich untersuche dabei die Geschlechterverteilung unter den Kritikerinnen und Kritikern, d. h. ich zähle aus, wie viele männliche und wie viele weibliche Literaturkritiker Bücher besprechen. Außerdem werte ich aus, welche Texte wahrgenommen werden, also ob nun mehr Werke von Männern oder Frauen Beachtung finden. Ich erforsche auch, ob Männer eher Bücher von Männern besprechen und Frauen eher Bücher von Frauen rezensieren.
Sie legen Ihr Augenmerk nur auf Printmedien?
Schuchter: In erster Linie auf Printmedien, also auf überregionale Tageszeitungen, aber ich beobachte auch Literatursendungen im Fernsehen, weil im TV natürlich nochmal anders kommuniziert wird.
Welche ersten Eindrücke haben Sie bisher gewonnen?
Schuchter: Die Auszählungen aus den ersten Jahren sind eindeutig. Kritikerinnen machen in überregionalen Zeitungen seit etwas mehr als zehn Jahren ca. 30 % aus. Bei den regionalen Zeitungen, etwa bei der Tiroler Tageszeitung, da ist die reine Prozentzahl insofern weniger aussagekräftig, als es insgesamt zu wenig KritikerInnen gibt, als man zu einem aussagekräftigen Ergebnis kommen könnte.
Wie unterscheiden sich die Buchbesprechungen von Frauen von jenen von Männern?
Schuchter: Frauen besprechen häufiger Kinderliteratur, ihre Rezensionen sind durchschnittlich auch kürzer, d. h. ihnen wird weniger Raum zugesprochen. Die gewichtigen Themen, neue Romane von prominenten Schriftstellern etwa, werden zu fast 90 % von Männern abgehandelt.
Sieht gerade so aus, als könnten sich die Frauen nicht durchsetzen.
Schuchter: Es gibt verschiedene Faktoren, zum Beispiel hängt viel vom Bewusstsein der verantwortlichen Redakteure ab und ob sie gezielt auf ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis achten. Ich gehe nicht davon aus, dass es absichtlich passiert, dass bedeutende Werke vorwiegend von Männern besprochen werden. Es hängt also eher von der Sozialisation des jeweiligen Redakteurs ab und von der Blattlinie.
Wie sehen Sie die Entwicklung für die kommenden Jahre?
Schuchter: Ich würde sagen, dass viel in Bewegung kommt. Es gibt zum Beispiel mehr Verlagslektorinnen als früher. Die Spitzentitel fast aller großen deutschen Verlage sind von Frauen geschrieben. Trotzdem sitzen an den entscheidenden Positionen noch immer Männer, in Jurys von Literaturpreisen etwa, da liegt der Frauenanteil nur bei ca. 20 %. Es ist zwar schön, dass es viele Lektorinnen gibt, aber wenn an den Stellen, die viel symbolisches Kapital haben, nur Männer sitzen, dann wird sich wenig verändern.
Die neue Generation von Autorinnen ist sehr selbstbewusst, zum Beispiel Ronja von Rönne, Vea Kaiser oder Charlotte Roche.
Schuchter: Natürlich gibt es diese Autorinnen, aber sie bilden trotzdem eher die Ausnahme. Verlage sind natürlich ökonomischen Zwängen unterworfen und es ist verständlich, dass sie ihre Autorinnen in dieser Weise inszenieren. Ich beobachte, dass kleinere Verlage mehr darauf achten, ihre Texte zu vermarkten, und die großen Publikumsverlage vorwiegend den Fokus auf die Vermarktung der Autorinnen und Autoren legen.
Auf der kürzlich veröffentlichten Longlist des Deutschen Buchpreises sind unter den zwanzig Nominierten zwölf Frauen.
Schuchter: Der Deutsche Buchpreis ist schon seit seiner Einführung eine positive Ausnahme, was die Repräsentation von Autorinnen anbelangt.
Blickt man in die Literaturgeschichte, dann zeigt sich, dass auf den Leselisten hauptsächlich Bücher von männlichen Schriftstellern stehen. Ändert sich da etwas?
Schuchter: Die Leselisten in Schulen und Universitäten sind noch immer sehr von männlichen Schriftstellern geprägt. In der Kinder- und Jugendliteratur hingegen dominieren die Frauen. Man denke nur an die kürzlich verstorbene Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger, an Astrid Lindgren oder Joanne K. Rowling. Wenn Kinder und Jugendliche mit von Frauen geschriebener Literatur sozialisiert werden, dann haben sie später weniger Vorbehalte gegenüber weiblicher Literatur. Die Leselisten haben eine lange Tradition. Veränderungen an diesen Listen vorzunehmen, ist extrem schwierig. Es ist geradezu ein Machtkampf, weibliche Schriftstellerinnen unterzubringen.
Im modernen Feminismus geht es um Gleichwertigkeit, nicht um Gleichartigkeit. Wie lesen Frauen „anders“?
Schuchter: Frauen werden beim Lesen anders sozialisiert. Sie wachsen damit auf, sich an männlichen Perspektiven zu orientieren. Dabei gibt es viele weibliche Heldenfiguren in der Literatur, etwa Madame Bovary oder Anna Karenina. Ein Problem ist allerdings, dass diese Figuren aus einer männlichen Perspektive erzählt werden. Buben hingegen werden nicht dazu angehalten, Bücher von Frauen zu lesen, um eine spezifisch weibliche Perspektive kennen zu lernen.
Welche Auswirkungen hat das?
Schuchter: Kritikerinnen besprechen zu 45 % Texte von Frauen, Männer hingegen nur 20 %. Ich glaube, dass diese Muster bereits in der Kindheit entstehen und vielen Kritikern ist gar nicht bewusst, dass sie hauptsächlich Texte von Männern besprechen.
Wie stehen Sie zum gendergerechten Formulieren?
Schuchter: Man kann gendersensibel formulieren, ohne dabei die Sprache zu entstellen. Leider wird diese Diskussion oft, v. a. im Internet, aggressiv geführt.
Im Essay „Frauen lesen anders“ schrieb Ruth Klüger „Die Hoffnung liegt in unseren feministischen Söhnen“. Was muss sich verändern?
Schuchter: Es geht auch darum, Macht abzugeben. Das bereitet verständlicherweise vielen Männern Angst. Gerade in der Literatur kann man aber Empathie lernen und versteht damit das Anderssein von Menschen besser. Wenn also Buben an eine weibliche Erzählperspektive herangeführt werden, dann wird sich in Zukunft etwas ändern. Davon bin ich überzeugt.
Das Interview führte Gerlinde Tamerl