Versorgungsengpässe machen Venezuela zum internationalen Krisenherd

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Caracas (APA/dpa) - Ärzte ohne Medikamente, Geschäfte ohne Waren, die Menschen verzweifeln: Die Not durch Misswirtschaft und US-Sanktionen im einst reichen Venezuela ist riesig. Die Misere wächst seit Jahren, und jetzt sehen sich immer mehr Venezolaner gezwungen, das Weite zu suchen. Das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR spricht inzwischen von einer der größten Massenbewegungen in der lateinamerikanischen Geschichte. Die Organisation für Migration (IOM) warnt vor einer Verschärfung der Lage und ruft die internationale Gemeinschaft auf, sich darauf vorzubereiten.

Wie viele Menschen haben das Land verlassen und wo sind sie hin?

Von den 2,3 Millionen Venezolanern, die im Ausland leben, haben nach UNO-Schätzungen 1,6 Millionen Menschen das Land seit 2015 verlassen. Das sind fast fünf Prozent der Gesamtbevölkerung. Zum Vergleich: Das wäre so, als würden vier Millionen Menschen Deutschland verlassen. Die meisten Venezolaner versuchen, regulär Jobs in Nachbarländern zu finden, einige beantragen Asyl. Allein 870.000 haben sich im Nachbarland Kolumbien niedergelassen, 400.000 zogen weiter nach Peru, 385.000 nach Ecuador. Die Zahl der Asylbewerber in den Nachbarländern explodiert, wie Zahlen des UNHCR zeigen: Im ganzen Jahr 2015 waren es gut 10.000, in diesem Jahr bis Ende Juli schon gut 137.000.

Warum kehren so viele ihrer Heimat den Rücken?

Venezuela leidet unter einer schweren Versorgungskrise. Die Regale in den Supermärkten des einst reichen Landes bleiben häufig leer, in der Krankenhäusern fehlen Medikamente und Material. Weil wegen Korruption und Misswirtschaft die Erdölförderung eingebrochen ist, verfügt Venezuela kaum noch über Devisen, um Lebensmittel, Medikamente oder Dinge des täglichen Bedarfs zu importieren. Für das laufende Jahr rechnet der Internationale Währungsfonds (IWF) mit einer Inflationsrate von einer Million Prozent. Außerdem könnte die venezolanische Wirtschaftsleistung um 18 Prozent einbrechen.

Wie reagiert die Regierung auf die massive Abwanderung?

Die immer autoritärer auftretenden Regierung des sozialistischen Präsidenten Nicolas Maduro versucht, das Thema herunterzuspielen. „Venezuela ist das beste Land der Welt“, sagt der Staatschef immer wieder. Insgeheim ist die Regierung vielleicht sogar froh über die Millionen von Dollar, die im Ausland arbeitenden Venezolaner an ihre Familien in der Heimat schicken. Die sogenannten Remesas lindern in Venezuela wenigstens die ärgste Not und bringen Devisen in das praktisch bankrotte Land.

Wie reagieren die Länder in der Region?

Die Länder in Südamerika geraten bei der Integration der Venezolaner an ihre Grenzen. Um das Problem anzugehen, wollen sie stärker zusammenarbeiten. Ecuador hat für Mitte September zu einem Treffen der Vertreter von 13 Staaten in Süd- und Mittelamerika eingeladen. Der Generalsekretärs der Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) dringt auf eine Krisensitzung zur Flüchtlingskrise.

Wird Venezuela das nächste Syrien?

Nein, dieser Vergleich hinkt. In Syrien fliehen die Menschen unter Todesangst, weil ihre Häuser und Dörfer zerbombt und sie von Terroristen drangsaliert werden. Aus Venezuela fliehen die allermeisten Menschen wegen der katastrophalen Versorgungslage. Aber auch die Unterdrückung der Opposition und die grassierende Gewalt befeuern die Auswanderung.

Kann die Krise und Flüchtlingsbewegung bis nach Europa schwappen?

Eher nicht. 90 Prozent der Venezolaner sind in Ländern der Region, weil sie sich wegen der Sprache und Kultur dort wohler fühlen als tausende Kilometer entfernt. Sie bekommen dort auch relativ einfach Aufenthaltsgenehmigungen und können arbeiten, ihre Kinder in die Schulen schicken und haben Anrecht auf medizinische Versorgung.

Spanien ist aber wegen der Sprache für die spanisch sprechenden Venezolaner attraktiv. 2018 gingen nach Angaben der Organisation für Migration (IOM) schon mehr als 208.000 Venezolaner nach Spanien. Die meisten wollen als Zuwanderer Jobs finden, aber auch die Zahl der Asylgesuche ist massiv gestiegen: von 120 im Jahr 2014 auf mehr als 10.000 im vergangenen Jahr.

Wie groß ist die Massenabwanderung im internationalen Vergleich?

Weltweit sind so viele Menschen wie nie zuvor auf der Flucht: 68,5 Millionen waren es 2017, so das UNHCR. Fast zwei Drittel haben in ihrem Heimatland Zuflucht gefunden, die anderen sind über die Grenzen geflohen. Die meisten Flüchtenden sind Syrer: 6,3 Millionen, gefolgt von Afghanen (2,6 Millionen) und Südsudanesen (2,4 Millionen).

Diese Zahlen sind aber nicht mit den 1,6 Millionen Venezolanern zu vergleichen, die das Land seit 2015 verlassen haben. Dabei handelt es sich überwiegend um Wirtschaftsmigranten, die anderswo ein Auskommen suchen. Seit 2015 haben nach Angaben des UNHCR nur knapp 300.000 Venezolaner Asyl im Ausland beantragt.

Wo leben weltweit die meisten Flüchtlinge?

Die meisten Flüchtlinge bleiben möglichst nahe an ihrem Heimatland, um zurückzukehren, wenn die Gewalt beendet ist. Die Türkei beherbergt nach Angaben des UNHCR mit Abstand die meisten geflohenen Ausländer: 3,5 Millionen, überwiegend Syrer. Uganda in Afrika und Pakistan in Südasien bieten jeweils 1,4 Millionen Geflohenen Schutz.