Die „Lula Livre“-Mission des Martin Schulz

Curitiba (APA/dpa) - Im Eingang des Gefängnisses hängt eine Messingtafel. Martin Schulz übersieht sie beim Reingehen. An der Pforte zeigt er...

Curitiba (APA/dpa) - Im Eingang des Gefängnisses hängt eine Messingtafel. Martin Schulz übersieht sie beim Reingehen. An der Pforte zeigt er seinen Pass, geht durch ein Drehkreuz und fährt mit dem Aufzug in den vierten Stock zum vielleicht bekanntesten Häftling der Welt.

Auf der Tafel steht, dass das Gebäude der „Superintendencia Regional“ 2007 von Brasiliens damaligem Präsidenten Luiz Inacio Lula da Silva eröffnet worden ist. Nun sitzt Lula ausgerechnet in diesem Gebäude selbst ein.

Am 146. Tag der Haft kommt der bisher bekannteste Besucher aus Europa nach Curitiba, der frühere SPD-Chef, deutsche Kanzlerkandidat und Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz. Er nennt Lula einen Freund. Und sieht das Verfahren gegen ihn als höchst zweifelhaft an. Deutsche Diplomaten, die das über 200 Seiten lange Urteil mit zwölf Jahren Haft studiert haben, sehen durchaus deutliche Indizien, zudem habe Lula eine mögliche Verantwortung auf seine verstorbene Frau abgeschoben.

Es geht um ein Apartment am Atlantik, das ein Baukonzern für eine Million Dollar modernisierte, angeblich als Geschenk für Hilfen bei Auftragsvergaben. Lula sagt, ihm gehöre die Immobilie gar nicht.

Nach der Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff sieht die linke Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores/PT) den nächsten Putsch, dieses Mal einen juristischen. Die Strafe ist in der Tat ungewöhnlich hoch. Zumal die amtierende Regierung um den konservativen Präsidenten Michel Temer sich zum Teil weit heftigeren Vorwürfen ausgesetzt sieht. Deshalb sehen Lulas Leute eine politische Zwei-Klassen-Justiz am Werk. „Ich habe einen kämpferischen Mann erlebt“, sagt Schulz.

Eigentlich ist es das Gefängnis ein Quartier der Bundespolizei, in dem meist nur Untersuchungshäftlinge sitzen. Der 72-jährige Lula hat oben ein 15-Quadratmeter-Zimmer mit Tisch, vier Stühlen, Bett, Garderobe und Fernseher - aber ohne Kabel-TV. Dazu ein Bad, keine Gitterstäbe vor dem Fenster - in Südamerika gibt es auch schlechtere Haftbedingungen. Von hier führt Lula einen ungewöhnlichen Wahlkampf.

Umfragen sehen ihn bei knapp 40 Prozent vor der Präsidentenwahl am 7. Oktober. Weit vorn, trotz allem. Er will Brasilien nach dem Absturz zu alter Größe führen. In seiner Amtszeit von 2003 bis 2010 sprudelte der Ölpreis, Lula wurde in Davos von den Wirtschaftsgrößen gefeiert, der frühere Schuhputzer begeisterte die Welt mit linker pragmatischer Politik. Millionen Menschen wurden mit Programmen wie Bolsa Familia oder Minha Casa aus der Armut geholt und bekamen würdige Häuser. Das haben ihm viele nicht vergessen - und halten ihm daher die Treue, aber das Denkmal Lula ist ziemlich gebröckelt.

In seiner Amtszeit entstand ein fast alle Parteien umfassendes Korruptionsnetzwerk bei Auftragsvergaben - das im Lava-Jato-Skandal mit Hunderten Anklagen gipfelten. Bis Mitte September soll eine Entscheidung fallen, ob Lula doch noch antreten darf.

Vor der Zellentür sitzen zwei Polizisten, Lula schreibt für Schulz ein paar Gedanken auf liniertes Papier - man wolle ihn als Präsidenten verhindern. „Ich zähle auf die Solidarität des deutschen Volkes.“ Zumindest auf die von Schulz und der SPD kann er zählen, auch wenn in dem von Heiko Maas (SPD) geführten Auswärtigen Amt nicht alle glücklich sind über die Überraschungsvisite. Ein brasilianisches Portal spricht vom „lider alemao“, „dem deutschen Führer“, der Lula besuche, das trifft es nicht ganz. Einige Bürger in Curitiba äußern Kritik an dem Besuch. Eine Einmischung in innere Angelegenheiten?

Immerhin ist deutschen Stiftungen im Ausland ein Distanzgebot für Wahlkampfzeiten vom Bundesverfassungsgericht auferlegt worden - die Reise organisierte die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung. Schulz betont: „Keine Macht der Welt kann mich daran hindern, einen Mann zu besuchen, dem ich vertraue und glaube.“ SPD-Chefin Andrea Nahles habe ihn um den Lula-Besuch gebeten, betont Schulz - die Partei hat seit Jahrzehnten enge Bindungen zur PT.

Schulz ist nach seinem politischen Absturz auf neuer Mission, er ist international so gut vernetzt wie wenige SPD-Politiker. Schulz denkt in großen Linien, das hier sei definitiv eine Schicksalswahl: Kippt auch der Gigant Brasilien nach rechts und setzt auf Abschottung? Denn wenn Lula nicht antreten darf, könnte der „Trump Brasiliens“, Jair Bolsonaro, gewinnen, der zwar schon in seiner siebenten Partei ist und auch mal Lula unterstützte, sich nun aber als Anti-System-Kandidat inszeniert. „Bolsonaro ist ein offener rechter Extremist, der mit einer Militärdiktatur liebäugelt“, sagt Schulz.

Nach dem 40-minütigen Besuch geht Schulz zu Lula-Anhängern im „Campo Lula livre“ (Camp „Freiheit für Lula“). Sie haben das Revoluzzer-Konterfei von Che Guevara für Lula adaptiert, nennen ihn einen brasilianischen Nelson Mandela, einen politischen Gefangenen. Während sie da in ihren roten Hemden stehen und Richtung Gefängnis rufen: „Lula, Guerrero do povo brasileiro“, „Lula, Du Krieger des brasilianischen Volkes“ - da wirkt Schulz etwas peinlich berührt. Als er immer wieder „Lula livre“ hört, reimt er darauf: „Cuba libre“.

Die PT setzt alles auf einen umstrittenen alten Helden im Gefängnis - der mögliche Ersatzkandidat Fernando Haddad ist mit Schulz bei Lula. Wenn Lula hinter den Mauern bleiben muss, könnte der frühere Bürgermeister von Sao Paulo, Haddad, ins Rennen geschickt werden - in der Hoffnung, dass er viele Lula-Wähler für sich gewinnt. Aber noch ist alles auf Lula gepolt. Jeden Morgen, Nachmittag und Abend singen die Anhänger im Camp einen „Lula Presidente“-Gruß Richtung Gefängnis. Als für ein Fernsehteam zu Mittag noch einmal ein Morgen-Gruß gesungen werden soll, meint eine Aktivistin: „Das wird unseren Lula drinnen aber verwirren“. Doch dies dürfte seine geringste Sorge sein.