Druck von allen Seiten auf afghanische Sicherheitskräfte
Kabul (APA/dpa) - Die Taliban in Afghanistan haben ihre Taktik geändert. Sie greifen massiv Sicherheitskräfte an, überrennen große Militärba...
Kabul (APA/dpa) - Die Taliban in Afghanistan haben ihre Taktik geändert. Sie greifen massiv Sicherheitskräfte an, überrennen große Militärbasen und Kontrollposten und setzen auf gezielte Tötungen. Die Militärs und Polizisten haben große Schwierigkeiten, dem Druck standzuhalten.
Der junge Soldat zeigt ein Foto seiner ersten Einheit auf dem Smartphone. Er deutet auf mehrere Köpfe. „Der ist tot, der auch, der starb als erstes“, sagt der 28-Jährige, der seinen Namen nicht veröffentlicht sehen will und sich hier Habib Hamizada nennt. „Der hier hat keine Beine mehr“, fährt er fort, „und dieser hat gerade die fünfte Kugel gefangen“. Der Soldat zuckt mit den Schultern und steckt das Handy wieder zurück in seine Tasche.
Dass Hamizada bereits so viele Kameraden aus seiner Ausbildungszeit von vor vier Jahren verloren hat, ist kein Einzelfall. Die Verluste der afghanischen Sicherheitskräfte sind in den vergangenen Monaten stark angestiegen. Wie hoch sie genau sind, darüber schweigen sich die offiziellen Stellen aus. Aus Militärkreisen heißt es, mindestens 30 bis 35 Polizisten und Soldaten kämen jeden Tag in Gefechten ums Leben. 2016 waren es nach afghanischen Regierungsangaben noch rund 20 Sicherheitskräfte pro Tag, die getötet wurden. Für 2017 gab es keine offiziellen Zahlen.
Der Anstieg liegt daran, dass die radikalislamischen Taliban ihre Strategien geändert haben. Seit Mitte Mai haben sie sich zu keinem Selbstmordanschlag in Städten mehr bekannt. Sie wollten vielmehr in Zukunft Zivilisten schützen, hieß es. Dafür haben nun die Armee, Polizei und Geheimdienst ihre volle „Aufmerksamkeit“ - und gegen diese führen sie einen immer härteren Zermürbungskrieg.
Mittlerweile überfallen Taliban-Kämpfer fast jede Nacht Kontrollposten und Militärbasen im ganzen Land. Alleine im vergangenen Monat konnten sie drei große Militärbasen mit teils über 100 Soldaten in Nordafghanistan überrennen. Dutzende Militärs wurden dabei getötet. Alleine in der Nacht zu Montag wurden bei derartigen Überfällen fast 60 Sicherheitskräfte getötet.
Dass die Taliban den Sicherheitskräften so zusetzen können, liegt unter anderem daran, dass sie in den vergangenen Jahren ihre territoriale Präsenz sukzessive ausgebaut haben. Sie kontrollieren immer mehr Landstriche oder sind dort zumindest präsent. Das schränkt die Bewegungsfreiheit der Regierungstruppen zunehmend ein. Diese haben immer öfter Schwierigkeiten, Nachschub an Kämpfern, Munition und Verpflegung in ihre Basen, zu ihren Kontrollposten oder in Kampfgebiete zu bringen. Immer häufiger ergeben sich Soldaten den Taliban, da ihnen die Munition ausgeht. Taliban schlugen zudem vor allem bei Militärbasen zu, die seit längerem eingekesselt waren. Sie richten ihre Angriffe auch gezielt auf Nachschubkonvois, die sie aus dem Hinterhalt angreifen.
Früher kannte man Hilferufe von eingekesselten Soldaten höchstens aus der südlichen Unruheprovinz Helmand. Soldaten in Urozgan sagten kürzlich lokalen Medien, sie hätten seit zwei Monaten keine Verpflegung erhalten und würden sich von Gras ernähren. Soldaten in Fariab oder Paktia riefen die Regierung über die Provinzräte auf, ihnen Munition und Verstärkung zu schicken. Von allen hieß es: Wenn kein Nachschub kommt, können wir unsere Posten nicht mehr halten.
Experten führen die Nachschubprobleme auch auf schlechtes Management und massive Korruption innerhalb des Militärs zurück. Noch immer würden Kommandeure nicht nach Kompetenz, sondern ihrer ethnischen Zugehörigkeit gemäß bestellt. Das frustriere kompetente Soldaten. Analysten schreiben die Probleme aber auch der Empfehlung der US-Militärberater zu, die afghanischen Kräfte sollten sich aus ländlichen Gebieten zurückzuziehen und sich auf den Schutz der Städte konzentrieren.
Viele Soldaten, die in den Provinzen die Kämpfe führen, fühlen sich so heute von Kabul im Stich gelassen. Das drückt auf die Moral. Demoralisierend wirkt aber auch, dass die Taliban heute praktisch täglich gezielt einzelne Sicherheitskräfte töten. Sie erschießen Polizeichefs oder Kommandeure der Spezialeinheiten in Vergnügungsparks, vor Bäckereien, oder auf ihrem Weg nach Hause.
Der Soldat Hamizada zeigt auf seinem Handy Bilder von zwei Offizieren, die blutüberströmt in ihrem Auto liegen. Immer öfter werden auch Magnetbomben auf die Unterseite von Polizei- oder Militärautos geklebt. Meist reißt es jenen, die genau über der Bombe sitzen, die Beine ab. Sie verbluten.
Taliban-Sprecher Sabiullah Mudjahid sagt in einer WhatsApp-Sprachnachricht, das Hochfahren der gezielten Tötungen in diesem Jahr hätten sich als sehr effizient erwiesen. „Mit diesen Operationen können wir jene Offizielle töten, die unsere Missionen stören“, sagte Mujahid.
Vor wenigen Monaten noch ließ Hamizada seine Waffe immer in der Einheit, wenn er nicht im Dienst war. Nun trägt er sie ständig bei sich, wenn er in der Stadt unterwegs ist. Er nimmt auch nicht mehr den Militär-Pick-up, den er auch privat nutzen darf, sondern fährt in einem unauffälligen Privatauto.
Wie es weitergeht? Einer Analyse der Denkfabrik International Crisis Group zufolge wird die Gewalt weiter anhalten. Die neue, aggressivere Afghanistan-Strategie des US-Präsidenten Donald Trump mit mehr Truppen und viel mehr Luftschlägen habe keine Wende gebracht, und die Taliban würden nun selbst mit militärischem Druck darauf antworten. Beide Seiten äußerten in den vergangenen Wochen die Meinung, die andere Seite würde nun eher für Friedensverhandlungen bereit sein, da der militärische Druck auf sie erhöht worden sei.
(Alternative Schreibweise: Urusgan)