Kindern mit Grenzen den Weg bahnen
Philip Streit ist Verfechter der Positiven Psychologie bei Kindern. Im TT-Interview plädiert er dafür, dass „Nein“ sagen wichtig ist und es achtsame Lehrer braucht.
„Kinder brauchen Grenzen“ ist eine der Grundaussagen Ihrer Arbeit. Welche Grenzen sind das?
Philip Streit: Eltern und Kinder sind dank des Hormons Oxytocin in den ersten zwei Jahren nach der Geburt im Normalfall so programmiert, dass sie einander zugetan sind. Daraus entsteht eine gute Beziehung. Den Rahmen für diese Beziehung müssen die Eltern stecken, indem sie Grenzen setzen.
Ist das der Tagesablauf?
Streit: Ja. Grenzen und Regeln sind Abfolgen, die die Eltern den Kindern vorgeben. Das sind Dinge wie etwa wann auf gestanden wird, wann gegessen wird, dass die Schuhe ausgezogen werden müssen, bevor man in die Wohnung geht, oder dass es vor dem Abendessen keine Süßigkeiten gibt. Das soll aber nicht heißen, dass die Eltern nur Regulierer sein sollen.
Entscheidend ist auch: Sie müssen sich Zeit nehmen, um mit dem Kind in Resonanz zu treten. Resonanz ermöglicht Begegnung und Beziehung. Anerkennende Sprache und Rückmeldung inspirieren, und ermöglichen dem Kind, „seine Lösung“ zu finden. Wir müssen nämlich eines wissen: Wir können unsere Kinder nicht verändern, sie können sich nur selbst verändern. Die Regeln sind der Rahmen, in dem das in der Familie stattfindet.
Warum braucht es das?
Streit: Weil man sonst Gefahr läuft, kleine Tyrannen großzuziehen, die alles bestimmen, und man selbst zu Helikoptereltern wird. Kinder brauchen einfach einen Rahmen. Selbst Maria Montessori hat mit ihren Materialien und Räumen einen Rahmen vorgegeben, in dem die Kinder sich bewegen und lernen.
Gehört „Nein“ sagen dazu?
Streit: Das elterliche „Nein“, so sind sich Psychologen und Pädagogen einig, ist entscheidend für die Entwicklung eines gesunden Selbst und einer gesunden Selbststeuerung. Soziale Situationen erfordern immer mehr soziale Kompetenz. Das Kind muss zum Beispiel wissen, wenn sich ihm jemand Fremdes nähert, wie es reagieren muss: Vorsichtig sein, nicht mitgehen, aber auch nicht schlagen.
Das Gehirn sagt ihm mit seinem Alarmsystem, dass möglicherweise etwas Neues kommt. Sein soziales Großhirn dosiert dann die Reaktion. Das entwickelt sich nach und nach bis zum Erwachsenenalter. Zumindest bis dahin braucht es die Haltung der Eltern als liebevollen Rahmen. Das funktioniert aber auch im Postitiven: Der berühmte „Marshmallow-Test“ aus den USA hat gezeigt, dass eine gute Selbstkontrolle Kinder im späteren Leben stark macht.
Wie ging dieser Test?
Streit: Man gibt Kindern einen Marshmallow und sagt ihnen, sie bekommen einen zweiten, wenn sie 15 Minuten aushalten, diesen einen Marshmallow nicht zu essen. Die Ergebnisse waren bahnbrechend: Jene Kinder, die es aushielten, den ersten Marshmallow nicht zu essen und auf den zweiten zu warten, taten sich im weiteren Leben leichter in der Schule, an der Uni und im Job.
Gibt es Grenzen bei den Grenzen, die Eltern setzen?
Streit: Es ist zu viel, wenn man alles bestimmen will. Und wenn man hofft, dass die Kinder sofort das machen, was man ihnen sagt, kommt man oft in einen Machtkampf. Viel wichtiger ist es, beharrlich bei der gleichen Botschaft zu bleiben. Wenn das Kind zum Beispiel seine Computerzeit dauernd überschreitet, können die Eltern in einer ruhigen Minute den Computer entfernen. Dann sollten die Eltern nicht mit dem Kind bzw. Jugendlichen herumdiskutieren, sondern ihn in aller Ruhe bitten, eine Lösung zu finden, der sie dann zustimmen können oder auch nicht. Das funktioniert sehr gut.
Die Schule hat gerade wieder begonnen. Viele Eltern wollen aus ihren Kindern Hochleistungsmenschen machen – sie sollen immer früher immer mehr lernen. Geht das überhaupt?
Streit: Hochleistung bringt man sicher nicht zusammen, wenn man einen fixen Plan für sein Kind hat. Wenn die Eltern aber in frühen Jahren Leidenschaften des Kindes bemerken und diese fördern, ist das sicher gut. Ist das Kind zum Beispiel ein guter Tennisspieler, kann man es begleiten und fördern. Aber nicht treiben! Das heißt, es ist gut und wichtig, Angebote zu machen, „Muss“ ist aber kontraproduktiv.
Welche Rolle spielen die Lehrer in diesem Zusammenhang?
Streit: Es braucht Achtsamkeit des Lehrers: gegenüber sich selbst, was entscheidende Voraussetzung ist, und gegenüber den Kindern der Klasse. Dann taucht Resonanz zwischen ihm und den Schülern auf. Und er braucht Hilfe und Unterstützung, sowie ein klares Regelwerk mit Ritualen, die den Tag strukturieren, und die den Rahmen für die Begegnung darstellen. Die Kinder werden dann automatisch offen für das, was er anbietet.
Das Interview führte Evelin Stark.
Zur Person
Philip Streit ist Vorstand des Institus für Kind, Jugend und Familie in Graz. Der Kinder- und Familientherapeut ist vor allem bekannt durch sein Engagement im Bereich der Positiven Psychologie.
Das Gespräch im Riesen 2018 thematisiert „Hochleistungskinder in einer Hochleistungsgesellschaft“. Philip Streit sitzt am Podium. 21.9., 16 Uhr, Swarovski Kristallwelten.