Alcatraz und Schatzkästchen: Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv

Wien (APA) - Das „Privilegium Maius“ einmal aus nächster Nähe in Augenschein nehmen zu dürfen, ist kein geringes Privileg. Ein Monat ehe in ...

Wien (APA) - Das „Privilegium Maius“ einmal aus nächster Nähe in Augenschein nehmen zu dürfen, ist kein geringes Privileg. Ein Monat ehe in der Wiener Kunstkammer diese wohl bekannteste Urkundenfälschung der österreichischen Geschichte in der Ausstellung „Falsche Tatsachen“ zu sehen sein wird, wurde sie bei einem Rundgang durch das Haus-, Hof- und Staatsarchiv für Journalisten aus der Metallkiste geholt.

Das 1749 von Kaiserin Maria Theresia gegründete Archiv sei „eines der wichtigsten Archive weltweit“ und „ein Schatzkästchen mit geradezu unglaublichen Beständen“, sagt Wolfgang Maderthaner. Der 64-jährige Historiker ist seit 2012 Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs, dessen über 100 Mitarbeiter rund 183.700 Regallaufmeter Archivgut betreuen. Während das Archiv der Republik in einem Neubau in Wien-Erdberg lagert, befindet sich alles, was das Haus Österreich, das Heilige Römische Reich sowie die Habsburger und andere adelige Familien betrifft, in dem 1902 fertiggestellten und vor 15 Jahren renovierten Gebäude am Minoritenplatz. Hier sind im prunkvollen Stiegenhaus auf Gemälden auch Maria Theresias Gründungsakt sowie der erste Besuch von Kaiser Franz Joseph im Gebäude dargestellt - samt porträtgenauer Darstellung sämtlicher wichtiger Mitarbeiter, auch jener, die mangels Uniform gar nicht an der feierlichen Stunde teilnehmen durften. Kreativer Umgang mit Geschichte also auch hier.

Der Archivtrakt umfasst elf Stockwerke und fasst rund 15.000 Laufmeter an Regalen. Durch seine Eisenkonstruktion, die auch vertikale Durchblicke ermöglicht, erinnert er ein wenig an ein Gefängnis. „Wir nennen es auch unser Archiv-Alcatraz“, scherzt Thomas Just, der Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs. Er erklärt das Ordnungsprinzip in diesem an Piranesi gemahnenden Gebäude, das mit Dokumenten aus heute 13 europäischen Ländern weit über Österreich hinaus weist: „Wir ordnen nicht nach Jahreszahl, sondern nach Provenienz, nach Ursprung.“ So finden sich Kartons mit der Aufschrift „Vermählungen“ neben „Trauerfälle“ und „Staaten“. Wer in den „Wahl- und Krönungsakten“ stöbert, kann etwa nachvollziehen, welche Wahlmänner in Frankfurt wann welche Titel verliehen bekamen. So fanden auch Korruption und Stimmenkauf Eingang in die Archive.

Überall stehen Feuerlöscher bereit. „Brandschutz ist ein heißes Thema“, sagt Just. In dem historischen, denkmalgeschützten Gebäude lässt sich im Fall der Brandfälle nicht mit Löschgas löschen. Daher sind überall Rohre der Sprinkler-Anlage zu sehen. Beim Justizpalast-Brand, dem größten Verlust in der heimischen Archivgeschichte, wo etwa alle unter Metternich angelegten Spitzelakte zerstört wurden, seien die ärgsten Schäden nicht durch Feuer, sondern durch Löschwasser entstanden, gibt Maderthaner allerdings zu bedenken. Eine Katastrophe wie in Köln, wo 2009 das Stadtarchiv bei U-Bahn-Bauten einstürzte, hätte beim Bau der unter dem Minoritenplatz führenden U3 immerhin nicht passieren können: Dank der Eisenkonstruktion wäre das Riesen-Regal wohl lediglich „eingeknickt“, meint der Generaldirektor.

Dass die in eisernen, versperrten Transportkisten lagernden Schätze der 80.000 Stück umfassenden Urkunden-Sammlung auf der Erdgeschoß-Ebene untergebracht sind, dient tatsächlich der Möglichkeit einer raschen Evakuierung - allerdings war dabei eher an den Kriegs- als an den Katastrophen-Fall gedacht worden. Langfristig katastrophal könnte sich dagegen der Umstand auswirken, dass man bei der letzten kompletten Neuordnung in den 1970er-Jahren ausgerechnet Kartons verwendete, die aus säurehaltiger Pappe gefertigt waren. Gravierende Schäden seien zwar noch nicht festgestellt worden und ganz allgemein sei der Bestand in einem „erstaunlichen Erhaltungszustand“, versichert Maderthaner, dennoch habe man vor zwei Jahren mit der „Umschachtelung“ begonnen. 3.300 Kartons hat man bisher geschafft. 77.000 warten noch darauf...

Hier, im Herzen des Archivs, breitet Just endlich einige Preziosen seiner Bestände aus. Nicht die hier aufbewahrte Schlussakte des Wiener Kongresses von 1815, Maria Theresias eigenhändig geschriebener Brautbrief aus 1736 oder eines von nur mehr drei erhaltenen Primärexemplaren des Westfälischen Friedens von 1648, aber etwa das insgesamt fünf Dokumente umfassende „Privilegium Maius“, das Herzog Rudolf IV. der Stifter (1339-1365) zur Sicherung von Sonderrechten für die Habsburger in Auftrag gab - eine raffinierte Fälschung, die 100 Jahre später als echt anerkannt wurde. „Das einzig Echte daran ist das Siegel“, meint Just, der für dieses Dokument (und für die Fotos) nun doch jene weißen Handschuhe angezogen hat, die er zuvor in das Reich der Micky Maus verwiesen hat. Auch die zum UNESCO-Weltdokumentenerbe gehörige „Goldene Bulle“ von Karl IV., das 1356 verfasste wichtigste der „Grundgesetze“ des Heiligen Römischen Reiches, die ebenfalls ab 16. Oktober in der Kunstkammer-Schau gezeigt werden wird, sollte man tunlichst nicht mit bloßen Händen angreifen. Die Aura des wenige Zentimeter vor den Besuchern ausgepackten Dokuments entfaltet sich auch so. Die Siegelschnur sieht allerdings nicht nur neu aus, sie ist auch neu - seit der letzten Restaurierung.

Ein Friedensvertrag mit Sultan Süleyman aus 1559 bringt die Erkenntnis: Nur osmanische Dokumente sind gerollt, alle europäischen jedoch gefaltet. Dokumente zu Maximilian von Mexiko überraschen mit Nazi-Stempeln. „Jedes Blatt trägt so einen Stempel“, erklärt Maderthaner. „So wollten sich die Nationalsozialisten in die Geschichte hineinstempeln.“ Zum Abschluss legt Just einen Vortrag von Außenminister Leopold Graf Berchtold an Kaiser Franz Joseph in Bad Ischl vor. Diese handschriftlichen Vorträge umfassten jeweils nur die Hälfte einer Seite, die andere diente quasi als Korrekturrand für kaiserliche Anmerkungen. Die Bitte Berchtolds zum Abschicken eines Telegramms mit der Kriegserklärung an Serbien wurde von Franz Joseph am 28. Juli 1914 handschriftlich genehmigt. Der Erste Weltkrieg und damit der Untergang der Habsburger-Monarchie hatte begonnen.

Zu Hause studieren lassen sich Dokumente zur Geschichte Österreichs ab 1. Oktober mit einem von Wolfgang Maderthaner herausgegeben Buch: Der im Brandstätter Verlag erscheinende Prachtband „99 Dokumente, Briefe und Urkunden“ verspricht „eine völlig neuartige Geschichte Österreichs von den Anfängen bis zur Gegenwart“. Den Auftakt bildet eine Pergamenturkunde Kaiser Ludwigs des Frommen aus dem Jahr 816, das älteste Dokument aus den Beständen des Haus-, Hof- und Staatsarchivs.

(S E R V I C E - Am 1. Oktober erscheint: Wolfgang Maderthaner: „Österreich. 99 Dokumente, Briefe und Urkunden“, Brandstätter Verlag, 560 S., 50 Euro, ISBN 978-3-7106-0193-4; Ausstellung „Falsche Tatsachen. Das Privilegium Maius und seine Geschichte“ in der Kunstkammer des Kunsthistorischen Museums, 16. Oktober 2018 bis 20. Jänner 2019, Di bis So, 10-18 Uhr, Do 10-21 Uhr, www.khm.at)