Experten: EU-Beitritt nicht im Interesse bosnischer Politiker
Wien (APA) - Der Europäischen Union beizutreten liegt nach Ansicht von Experten nicht im Interesse der bosnischen Politiker. Dies stellten d...
Wien (APA) - Der Europäischen Union beizutreten liegt nach Ansicht von Experten nicht im Interesse der bosnischen Politiker. Dies stellten die Politikwissenschafterin Alida Vracic und die Journalistin Azra Nuhefendic im Vorfeld der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Bosnien- Herzegowina am 7. Oktober im APA-Interview fest.
Von dem Urnengang erwarten sie sich keine großen Veränderungen. „Meiner Meinung nach stehen bei den Wahlen in erster Linie die Position und der Reichtum auf dem Spiel, die unsere ethno-nationalistischen Politiker in den letzten zwanzig Jahren angesammelt haben“, sagte Nuhefendic, die am Montag auf Einladung des „forum journalismus und medien wien“ (fjum) im International Institute for Peace (IIP) in Wien weilte. „Ich bin mir sicher, dass die Politiker sich nicht um die Grundbedürfnisse normaler Bürger wie mir kümmern werden.“ Worum sie sich wirklich sorgten, sei, die Macht sowie den Reichtum, den sie durch Korruption und Machtmissbrauch angehäuft hätten, zu erhalten.
Die Parteien mit der größten politischen Macht seien jene, die Arbeitsplätze an ihre Anhänger vergeben könnten. Sobald sich ein derart weitverbreiteter Klientelismus etabliert habe, würde eine gewisse Anzahl an Menschen immer die gleichen Parteien wählen, erklärt Vracic den erwarteten Stillstand.
Parteimitglied zu sein, heiße in Bosnien-Herzegowina nicht nur, politisch aktiv zu sein, ergänzt Nuhefendic. „Es bedeutet in Bosnien unglücklicherweise alles: einen Job oder Unterstützung für die Wohnung zu bekommen und, dass auch Familienmitglieder bevorzugt behandelt werden.“ Nicht-Parteimitglieder seien auf sich selbst angewiesen.
In der EU würden die Rechtsstaatlichkeit durchgesetzt und die Politiker sich nach Ansicht Nuhefendics früher oder später im Gefängnis wiederfinden. „Deshalb sprechen sie über andere Themen und nicht über jene, die wirklich für alle Bürger relevant wären“, so die in Prozor geborene Journalistin, die im Jahr 2010 mit dem Journalistenpreis „Writing for CEE“ ausgezeichnet wurde.
Im Wahlkampf habe keine Partei einen zukünftigen EU-Beitritt weit vorne auf ihrer Agenda gesetzt, bestätigt die Politikwissenschafterin Vracic. Diesen anzustreben, werde aus Gewohnheit zwar immer wieder wiederholt, aber in der Praxis passiere das Gegenteil. „Keine Partei tut etwas dafür, dass Bosnien-Herzegowina der Europäischen Union näher kommt“, unterstreicht Nuhefendic. In den Kampagnen gehe es rein darum, die anderen Parteien zu verunglimpfen.
Für die Analystin Vracic wird bei den Wahlen entschieden, wo das Land sich selbst heute und in zehn Jahren sehe. „Wenn wir unsere Zukunft sich nicht in Richtung dessen, was uns als europäische Werte dargestellt wurde, entwickeln sehen, werden die Bürger, auf die sich die Politik letztendlich auswirkt, noch verwirrter und die Gesellschaft zunehmend depressiver werden“, befürchtet sie. Zudem bestimmten die zu vergebenden Ämter die Außenpolitik.
In Bosnien gebe es derzeit keine staatliche Institution, die klar und auf verständliche Weise erklären würde, wie der Weg zur Europäischen Union aussehe und dass die Mitgliedschaft nicht das Endziel sei, sondern der Reformprozess und die Weiterentwicklung des Lands zähle, kritisiert Vracic.
„Bei dem Prozess geht es für uns darum, einen würdigen Lebensstandard zu erreichen“, sagt die Politikwissenschafterin und Gründerin des Think Tanks Populari in Sarajevo. Vracic erwartet aufgrund der Entwicklungen in anderen Balkanländern nicht, dass sich alle Konflikte auflösen, sobald die Region in die EU integriert sei. Als Beispiel führt die Analystin Kroatien an. Der Nachbarstaat sei der Union 2013 beigetreten und kämpfe mit großen Schwierigkeiten.
Das Problem liege aber nicht allein bei den Bosniern. „Die EU hat keine Türen geöffnet und keine Anzeichen dafür gegeben, dass die Bosnier darauf hoffen können, Teil der Union werden zu können“, sagt Vracic, deren Ansicht nach Bosnien-Herzegowina gewissermaßen „vergessen“ wurde, während die EU mit ihren eigenen Problemen beschäftigt sei. Die Union sei in einer anderen Situation als drei oder fünf Jahre zuvor, unter anderem durch den Brexit.
„Noch vor ein paar Jahren haben viele Menschen ihre Hoffnungen darauf gesetzt, dass ein Beitritt in naher Zukunft stattfinden werde. In der Zwischenzeit haben sie aufgegeben“, berichtet Nuhefendic. Dies ließe sich daran ablesen, dass quer durch alle Gemeinschaften ganze Familien aus Bosnien-Herzegowina abwandern würden. „Es zeigt uns, dass sie keine Hoffnung mehr haben, ein normales, friedliches Leben in Wohlstand führen können“, so die Journalistin.
Man müsse vorsichtig bei der Beurteilung der Bedeutung von Migration sein, räumt Vracic ein. Es sei eine Tatsache, dass diese in atemberaubendem Tempo stattfinde. Die Schätzungen lägen zwischen 25.000 und 50.000 Personen pro Jahr, aber niemand würde die genauen Zahlen kennen, da es keine Verpflichtung gäbe, sich in Bosnien-Herzegowina abzumelden.
Die hohe Auswanderung bewirke, dass wenige talentierte Menschen im Land lebten, die an der Umsetzung von Reformen arbeiten könnten, berichtet Vracic. Die heutigen bosnischen Emigranten seien meist gut ausgebildet und würden nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen auswandern, sondern auch aufgrund des Gefühls, in Bosnien-Herzegowina nicht zu zählen; aus Mangel an religiöser Freiheit, oder wegen Korruption. „Viele junge Menschen machen einen Abschluss, ohne jemals daran zu denken, in Bosnien-Herzegowina zu arbeiten, sondern um das Land verlassen zu können“, bestätigt Nuhefendic.
Vracic erinnert aber daran, dass die Auswanderung auch positive Auswirkungen habe. In der gesamten Balkanregion und auch anderswo sei festzustellen, dass erfolgreiche Migranten als Vorbilder angesehen werden. Durch sie würden Mitbürger dazu angeregt, Sprachen zu lernen und sich fortzubilden. „Durch Migration wird ein Pool an gebildeten Menschen aufgebaut“, ist Vracic überzeugt.
Auswandern würden alle Volksgruppen: muslimische Bosniaken, bosnische Serben und Kroaten. „Abgesehen von ihrer Geschichte, Sprache und kulturellen Identität, haben alle Bosnier auch das Bedürfnis gemeinsam, ein normales Leben zu führen“, so Nuhefendic. Dies sprechen der Journalistin zufolge Politiker heutzutage nicht an - sie sprechen stattdessen über Fahnen, Symbole und Patriotismus. „Das sind leere Worte, die die Menschen nicht ernähren.“