Ein Wälzer als Page-Turner: Currentzis‘ Einstand beim SWR
Wien (APA) - Das „Monster“ - eine Bezeichnung von Gustav Mahler selbst für den Kopfsatz seiner dritten Symphonie - wie es leibt, lebt, und: ...
Wien (APA) - Das „Monster“ - eine Bezeichnung von Gustav Mahler selbst für den Kopfsatz seiner dritten Symphonie - wie es leibt, lebt, und: lacht. Teodor Currentzis hat gestern, Dienstag, Abend seinen schon traditionellen Zyklus im Wiener Konzerthaus begonnen. Erstmals mit dem SWR Orchester - aber immer mit der Garantie eines Erlebnisses.
Kaum einen Sommer ist es her, dass die Wiener Sängerknaben zuletzt am Balkon des großen Saales über eine Stunde ausharren mussten, um nur wenige Minuten lang „bimm bamm“ in Mahlers Dritter zu singen. Damals, im Juni, war es Cornelius Meisters Abschied vom Chefpult des RSO Wien. Diesmal ist es ein Einstand: Currentzis, als aufregendster Dirigent unserer Tage fix etabliert, hat mit der neuen Saison das SWR Symphonieorchester übernommen. Und so beginnt die Spielzeit im Konzerthaus gewissermaßen so, wie die letzte geendet hat. Und doch ganz anders.
Mahlers zugleich massivste und unwägbarste Symphonie verlangt überlieferungsgemäß einen langen Atem. Adorno verglich das Werk mit einem großen Roman. Ein echter Wälzer, gedankenschwer und beziehungsreich, dem man mit Sitzfleisch und Konzentration beizukommen hat. Aber nicht beim charismatischen Currentzis, der den Wälzer lieber als Page-Turner anlegt. Als Thriller, spannend und unterhaltsam, egal auf welcher Seite man ihn aufschlägt.
Mit dem einen oder anderen billigen Effekt, der einen oder anderen vorhersehbaren Wendung - und einem Drive, der auch die letzte der 95 Minuten im sprichwörtlichen Flug vorbeigehen lässt. Filmmusikalisch, lebendig, zuletzt von zurückgenommener Empfindsamkeit, von großen Flächen und scharfen Kontrasten. Darf man das? Das Mahler‘sche Monster so bekömmlich degustierbar machen, dem Besteigen des symphonischen Massivs die Mühsal nehmen? Ja - bitte! Zumal es dabei nichts von seiner Größe einbüßt.
Currentzis‘ Arbeit an und mit den Motiven ist von einem untrüglichen Gespür für das Spiel mit der Spannung und von großer plastischer Fertigkeit getragen - sodass selbst die Sängerknaben wie gebannt auf den tanzenden Zauberer mit dem schwarzen Undercut starren, der sein ureigenes emotionales Ballett auf dem Pult vollführt und sich zwischen den Sätzen noch schnell seine Doc Martens neu binden muss. Dem Publikum will es indes nicht gelingen, zwischen den Sätzen nicht zu klatschen.
Nun ist das erst 2016 aus einer Zusammenlegung hervorgegangene SWR Orchester nicht MusicAeterna - jenes russische Orchester, das seinem Gründer Currentzis nicht nur idealer Partner, sondern fast Körperteil geworden ist. Die Musiker aus Stuttgart spielen nicht stehend wie jene aus Perm und sie bringen nicht die faszinierende Verschworenheit mit, in der das unbedingte Bekenntnis zum Maximum keinerlei Anstrengung zu erfordern scheint. Aber sie besitzen als großes, aus langen Traditionslinien entstandenes, von durchaus auch älteren Musikern besetztes Orchester eine Potenz und eigenständige klangliche Autorität, die zu skulptieren Currentzis zugleich fordert und wachsen lässt.
Ohne MusicAeterna tritt auch der messianische Faktor Currentzis deutlicher hervor. Und seine vielleicht erstaunlichste Begabung: dem Publikum, den Musikern, selbst den Sängerknaben und dem Singverein mit schlafwandlerischer Zuverlässigkeit zu vermitteln: wir dürfen gerade an einem Besonderen, Geheimnisvollen, Kostbaren teilhaben. Dürfen eine Gnade durch die Musik selbst empfangen. Da ist es wieder, das Mahler‘sche Monster, freudestrahlend.
(S E R V I C E - www.konzerthaus.at)