Großbritannien

Zweites EU-Referendum: Bereitet Labour den Exit vom Brexit vor?

Delegierte strecken auf dem Parteitag ihre Hände in die Höhe, um für die Möglichkeit eines zweiten Brexit-Referendums zu stimmen.
© REUTERS

Die Chancen für ein zweites Referendum über den Brexit sind in den vergangenen Tagen gestiegen. Rückenwind könnte der Forderung die Labour-Partei geben. Die hält sich die Option offen – ist jedoch selbst uneinig.

London – Immer mehr deutet darauf hin, dass es zu einem zweiten Brexit-Referendum kommen könnte. Die Labour Party hält sich bei ihrem Parteitag in Liverpool alle Optionen offen. Eine Abkehr vom Brexit scheint nicht mehr unmöglich zu sein.

Werden die Briten den Brexit doch noch einmal rückgängig machen? Das zumindest könnte man glauben, wenn man die Begeisterung für den Vorschlag eines neuen Referendums mit der Option zur Abkehr vom Brexit auf dem Labour-Parteitag sieht.

Für ein zweites Brexit-Referendum zu werben, müsse eine Option bleiben, ruft der Brexit-Experte der Arbeiterpartei, Keir Starmer, am Dienstag in den Saal in Liverpool. „Niemand schließt den Verbleib (in der EU) als Wahlmöglichkeit aus“ – er erntet frenetischen Beifall, viele Zuhörer stehen auf. In diesem Moment scheint alles möglich.

Viel Jubel, aber auch Skepsis

Starmer fordert zwar nicht ausdrücklich eine Abkehr vom Brexit, doch er könnte kaum deutlicher machen, dass es ihm genau darum geht. Dass er damit den Nerv vieler Labour-Mitglieder trifft, ist auch vor dem Tagungszentrum im Hafen von Liverpool zu sehen: Dutzende in blau gekleidete Menschen schwenken EU-Fahnen und halten Plakate mit der Forderung nach einem zweiten Referendum in die Höhe.

Doch es gibt während Starmers Rede auch ratlose Gesichter in der Menge. Labour ist tief gespalten in der Frage nach dem Brexit. Noch am Tag zuvor hatte Schattenkanzler John McDonnell in einem Radio-Interview ausgeschlossen, dass der Verbleib in der EU bei einem zweiten Brexit-Referendum zur Wahl stehen könnte. McDonnell gehört wie Labour-Chef Jeremy Corbyn zum extrem linken, EU-skeptischen Teil der Partei. Doch für den Moment scheinen sich die Europa-Freunde um Starmer durchgesetzt zu haben.

Ein Parteitagsbeschluss, den die Delegierten später mit großer Mehrheit verabschieden, deutet nur sehr vage an, dass sich Labour für ein zweites Referendum um den Brexit stark machen könnte und nur als letzte Option. Ganz oben auf der Wunschliste steht eine Neuwahl. Doch hört man Starmer, klingt ein zweites Referendum eher nach Plan A als nach Plan B.

Scheitert May im Parlament, könnte Referendum kommen

Realität werden könnte das, wenn Premierministerin Theresa May mit einem Brexit-Deal im Parlament in Westminster scheitert. Auch das ist inzwischen wahrscheinlicher geworden. Labour, das macht Starmer deutlich, werde Theresa May nicht als Mehrheitsbeschaffer für ein Brexit-Abkommen auf Grundlage ihres Chequers-Deals zur Verfügung stehen. May kann bisher aus eigener Kraft dafür nicht auf eine Mehrheit hoffen. Die Pläne sind bei ihren Konservativen heftig umstritten. Auch die EU lehnt die Vorschläge ab.

Sollte der Regierung noch rechtzeitig ein Abkommen mit Brüssel gelingen, muss sie es vor dem EU-Austritt am 29. März 2019 dem Parlament in Westminster vorlegen. Premierministerin May hat eine Alles-oder-nichts-Abstimmung angekündigt. Entweder die Parlamentarier unterstützen ihren Deal oder es gibt einen Brexit ohne Abkommen – mit möglicherweise katastrophalen Folgen für viele Lebensbereiche. Für Starmer ist das keine sinnvolle Abstimmung. „Es geht darum, einen zerstörerischen Tory-Brexit zu verhindern“, sagt er.

Einer Umfrage zufolge wünschen sich 86 Prozent der Labourmitglieder ein zweites Referendum zum endgültigen Brexit-Abkommen. 90 Prozent würden heute für einen Verbleib Großbritanniens in der EU stimmen, ergab die YouGov-Befragung von 1000 Labour-Mitgliedern im Auftrag der Zeitung „The Observer“. In der Gesamtbevölkerung dagegen scheint es Umfrage zufolge nach wie vor keine klare Mehrheit für einen Exit vom Brexit zu geben. (APA/dpa)

Internationale Pressestimmen zur Brexit-Diskussion

Internationale Zeitungen schrieben am Mittwoch zur Brexit-Diskussion nach dem Labour-Parteitag in Großbritannien:

El Mundo

(Madrid):

„Die Trennung ist nicht unumkehrbar. Der Brexit, einer der größten politischen Fehler dieses Jahrhunderts, hat die Büchse der Pandora geöffnet, aus der alle Dämonen der britischen Politik entflohen sind. Die Unfähigkeit der (britischen Premierministerin) Theresa May, mit der EU ein vernünftiges Scheidungsabkommen zu erzielen, hat die Gespräche in eine Sackgasse manövriert. Die Polarisierung hat sich im Vereinigten Königreich zugespitzt. Die Folgen werden jeden Tag sichtbarer. Die wirtschaftliche Verlangsamung wird immer besorgniserregender. Vor diesem Hintergrund wird in der Labour Party erstmals die Möglichkeit eines neuen Referendums über den Verbleib in der EU in Erwägung gezogen. Immer mehr Briten sind dafür. Das könnte eine unverantwortliche Entscheidung, bei der wir alle viel zu verlieren haben, wieder rückgängig machen.“

Pravda

(Bratislava):

„Wenn das Brexit-Referendum für Großbritannien ein Hasardspiel war, dann war alles, was seither geschah, eine Katastrophe. (Premierministerin) Theresa May, die nach David Cameron die Regierung noch in Siegesstimmung übernahm, ist heute eine Politikerin, die wie aus irgendeiner Unaufmerksamkeit noch nicht bemerkte, dass ihre Zeit schon abgelaufen ist.

Camerons Referendum war nur ein zynisches Mittel, um einen Riss in seiner Partei zu kitten, und selbst das misslang. Das muss jetzt aber nicht heißen, dass nun alle nur dem Absturz der Konservativen in ihr bitteres Ende zusehen werden. Mit ihnen würde nämlich noch viel mehr abstürzen.“

Lidove noviny

(Prag):

„Wenn es Großbritannien nicht gäbe, müsste Europa es erfinden. (...) Zur für viele Europäer so anziehenden ‚Britishness‘ gehört neben Weltoffenheit und einer gewissen Skepsis auch der Respekt vor Gesetzen und einmal gemachten Versprechungen. (...) In den aktuellen Nachrichten aus Großbritannien ist oft von einem ‚neuen Referendum‘ die Rede. Es entsteht der Eindruck, dass diejenigen Kräfte, die mit dem Austritt der EU nicht einverstanden sind, eine Wiederholung des Referendums durchsetzen wollen – natürlich in der Hoffnung, dass das Ergebnis diesmal ein anderes sein würde. Doch das würde unsere Vorstellung von ‚Britishness‘ untergraben: Das einmal gegebene Wort würde nicht gehalten.“

Duma

(Sofia):

„Die Briten kommen wohl zu sich. (...) Der Zorn der Mitglieder der Labour-Partei wurde durch die Unfähigkeit von Premierministerin Theresa May, sich mit der EU über einen Austritt aus der Union zu einigen, hervorgerufen. Die Briten hofften ja, dass dies auf die schmerzloseste Weise für sie geschehen könnte – dass alles beim Alten bleiben könnte, ohne dass das Königreich Geld für die gemeinsame Kasse bereitstellt und ohne dass es sich den Brüsseler Richtlinien unterwirft. Es stellte sich aber heraus, dass die Europäer sich nicht für dumm verkaufen lassen wollen und auch keine Absicht haben, das Leben in Großbritannien leichter zu machen. Einen schmerzlosen Brexit wird es und kann es nicht geben. (...) In den Kreisen der Konservativen scheint man auch nicht besonders glücklich zu sein.“

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