Robert Menasse im Schauspielhaus: „Die Hauptstadt“ voller EU-Zombies
Wien (APA) - Dem durch Brüssel rennenden Schwein begegnet man auf der Bühne des Wiener Schauspielhauses ebenso wenig wie dem Holocaust-Überl...
Wien (APA) - Dem durch Brüssel rennenden Schwein begegnet man auf der Bühne des Wiener Schauspielhauses ebenso wenig wie dem Holocaust-Überlebenden David de Vriend. Von diesen beiden Protagonisten des Romans „Die Hauptstadt“ von Robert Menasse ist in der Bühnenfassung von Lucia Bihler und Tobias Schuster nur die Rede. Dennoch wurde diese Österreichische Erstaufführung am Mittwochabend ein bejubelter Erfolg.
Im Jänner wurde der im Vorjahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Roman, der von der verblassenden Vision des europäischen Gemeinschaftswerks und den Mühlen seiner Bürokratie erzählt, im Zürcher Theater im Neumarkt in einem dreistündigen Abend erstmals auf die Bühne gebracht. Die gestrige, um eine Stunde kürzere Aufführung darf als Beweis für die Magie des Theaters wie für die erzählerische Kraft dieses Romans gleichermaßen gelten. Regisseurin Bihler stülpt nämlich in der Ausstattung von Josa Marx der ausufernden, immer wieder in den Couloirs der EU-Kommission in Brüssel spielenden Geschichte ein strenges, einem realistischen Setting total gegenarbeitendes ästhetisches Konzept über.
In einem grün marmorierten Bar-Raum begegnen einander sechs Schauspieler in neun Rollen als EU-Zombies und Eurokratie-Gespenster. Weiß geschminkte Gesichter mit dunklen Augenhöhlen sowie abgehackte Bewegungen scheinen Stumm- wie Horrorfilm-Ästhetik zu zitieren. Warten auf Nosferatu. Das Unglaubliche: Hat man sich auf den Verfremdungseffekt eingelassen, beginnt die Story rund um das „Big Jubilee Project“, die parallelaktionsartig der EU-Kommission ein besseres Image verschaffen soll, dennoch ihre Wirkung zu entfalten.
Viele Regie- und Ausstattungs-Ideen gibt es in dieser dichten Inszenierung zu bestaunen. Manche, wie filmische Stillleben von sich zersetzenden Lebensmitteln, die allmählich von Fliegen und Maden befallen werden, überzeugen mehr, andere, wie ein als Sprecherkabine und Sauna gleichermaßen verwendeter Nebenraum oder ein beständig das Geschehen mit Zeitsprung wiedergebender Bildschirm weniger.
Bardo Böhlefeld hält als Barmann nicht nur die Drinks, sondern auch alle Fäden in der Hand. Er fungiert als Erzähler und kann, jeweils von einem elektrischen Knistern begleitet, das Geschehen stoppen, rückspulen oder rasch vorlaufen lassen. Ein eindrucksvoller Trick. Im Zentrum steht Sophia Löffler als ehrgeizige Spitzenbeamtin Fenia Xenopoulou im hautengen rosa Businesskostüm. In der Generaldirektion für Kultur ist sie auf dem Abstellgleis gelandet. Kein Budget, kein Einfluss, keine Bedeutung. Um „Visibility“ für ihre nächsten Karriereschritte zu generieren, möchte sie den 50. Geburtstag der Europäischen Kommission als Aufsehen erregende Festivität begehen und fordert von ihren Mitarbeitern (Simon Bauer und Jesse Inman als Dead Men Walking) Ideen ein. Sehr anschaulich vermittelt werden die Intrigentechniken der Meisterbürokraten: Wie entsteht aus einer Mücke ein Elefant, wenn man nicht rechtzeitig in Deckung geht? Aber auch: Wie verhindert man todsicher auch die tollste Initiative, ohne dass es das Gegenüber merkt?
Steffen Link bringt faszinierende Vielseitigkeit ins Spiel und verleiht verliebten Beamten, bulldoghaften Protokollchefs und lästigen Schweinemast-Lobbyisten („Think pig“) sehr unterschiedliche Gestalt, Sebastian Schindegger ist als emeritierter Wissenschafter, der in der Reflection-Group des Think Tanks „New Pact for Europe“ Auswege aus der EU-Krise entwickeln soll, mit seinem Idealismus auf verlorenem Posten. Nationalismus ist der größte Feind der Vision der Europäischen Einigung, darin sind sich alle einig, die Menasse in seinem vielschichtigen, immer wieder auch sehr komischen Roman auftreten lässt. Diese Botschaft vermittelt sich auch an diesem Abend problemlos. Auch wenn man das Schicksal des Kontinents nur ungern in die Hände von Untoten legen möchte.
Am Ende gab es viel Premierenjubel, den auch Robert Menasse sichtlich genoss. Am 2. Oktober liest er im Berio-Saal des Wiener Konzerthauses selbst aus seinem Roman.
(S E R V I C E - „Die Hauptstadt“ nach dem Roman von Robert Menasse, in einer Bühnenfassung von Lucia Bihler und Tobias Schuster, Regie: Lucia Bihler, Bühne und Kostüme: Josa Marx, Musik: Jacob Suske, Video: Florian Schaumberger. Mit Simon Bauer, Bardo Böhlefeld, Jesse Inman, Steffen Link, Sophia Löffler, Sebastian Schindegger. Nächste Vorstellungen: 30.9., 3., 4., 5., 6., 11., 12.10., 20 Uhr. Karten: 01 / 3170101-18. www.schauspielhaus.at; Robert Menasse liest aus „Die Hauptstadt“ und anderen Werken, Christian Bakanic und Marie Spaeman spielen dazu Europäisches: Wiener Konzerthaus, Berio-Saal, 2. Oktober, 19.30 Uhr)