„Utøya 22. Juli“: Terror in Echtzeit
„Utøya 22. Juli“ rekonstruiert den rechtsextremen Terror-Anschlag auf der norwegischen Insel.
Innsbruck –72 Minuten dauerte einer der schlimmsten Terrorangriffe der jüngeren Geschichte Europas. 72 Minuten jagte der Rechtsextreme Anders Behring Breivik junge Menschen auf der Ferieninsel Utøya und ermordete 69 von ihnen. Er sitzt nach einem aufsehenerregenden Prozess in Haft und arbeitet an einem Buch über seine neonazistische Ideologie.
Doch um den rechtsextremen Täter geht es dem Film „Utøya 22. Juli“ nicht. Die Insel und das Datum fungieren als neutraler Titel. Im Mittelpunkt stehen die Opfer des Terror-Angriffs, konkret die 18-jährige Kaja. Mit ihrer jüngeren Schwester Emilie ist sie eine der Teilnehmerinnen des Sommercamps der sozialistischen Jugendorganisation.
Als Zuschauer begleiten wir sie den gesamten Film. Darstellerin Andrea Berntzen meistert diese Herausforderung phänomenal. In Echtzeit und ohne Schnitt erleben wir ihre Flucht auf der Insel mit, leiden mit ihr und sehen, wie sie anderen hilft und im absoluten Ausnahmezustand ihr Bestes gibt.
Doch wie fühlt es sich an, mitten in einem Terroranschlag zu sein? Regisseur Erik Poppe hatte ein Ziel: die Erfahrung der Opfer spürbar zu machen, „ohne Kompromisse, ohne klassische Struktur, ohne zusätzliche Ausschmückungen. Minute für Minute. Keine Schnitte, keine Musik, keine ,Spezialeffekte‘.“ In dem Maße, wie das im Kino möglich ist, erreicht er dieses Ziel.
Mit wackeliger Handkamera bewegt er sich durch den Wald und reichert die körperliche Dynamik mit emotionalen, menschlichen Interaktionen an. Das Resultat ist ein Realismus innerhalb selbstgewählter Grenzen. Die formale Reduktion ist gepaart mit dem Respekt vor den echten Toten und Überlebenden. Das darf man dem Film nicht vorwerfen.
Auf der heurigen Berlinale wurde der Film kontrovers aufgenommen und Poppe erklärte seine Beweggründe: „Es wird viel über den Täter, seine Tat und den Gerichtsprozess, aber nicht über die Opfer gesprochen. Man kennt ihre Geschichten nicht.“
„Utøya 22. Juli“ ist eine heftige Kino-Erfahrung. Kombiniert mit Hintergrundwissen bietet der Film aber eine Erfahrung an, die so nur Kino vermitteln kann. Hollywood-Regisseur Paul Greengrass widmet sich in seiner im Oktober erscheinenden Netflix-Produktion „22. Juli“ demselben Thema. Ein interessanter Vergleich. (maw)