Schule ohne Freiwilligkeit und Freude ist „Dressur“
Baustelle Schule. Der renommierte Hirnforscher Gerald Hüther sprach vor seinem Tirolbesuch mit der TT über Würde, Digitalisierung und Eltern, die Schule verweigern.
Sie kommen auf Einladung des katholischen Lehrervereins, der sich u. a. um Supervision bemüht, nach Tirol. Sind Lehrpersonen noch Einzelkämpfer?
Gerald Hüther: Bisher war es wirklich so, dass sich Lehrer als Einzelkämpfer erlebt haben. Deshalb haben wir ja auch die Initiative „Schule im Aufbruch“ gegründet, wo es darum geht, dass sich Lehrer gegenseitig stärken. Wir brauchen in der Schule einen anderen Umgang miteinander. Immer wenn ein Bündnis zwischen Lehrern, Schulleitung und Eltern zustande kommt, entsteht eine Schule, die über sich hinauswächst. In Schulen mit so einem Bündnis kann der gesamte Gestaltungsraum – innerhalb des gesetzlichen Rahmens – genutzt werden, und dieser Spielraum ist offenbar größer, als die meisten Lehrer glauben.
Ein großes Thema ist die Digitalisierung. Welche Aufgaben haben hier Lehrer und Eltern?
Hüther: Wir müssen uns immer wieder klarmachen, dass digitale Medien Werkzeuge sind wie Rechenschieber, Hammer und Meißel. Solange diese Geräte eingesetzt werden, um ein Werk zu vollbringen, stellen wir fest, dass es auch viel besser funktioniert als ohne. Daher ist es absurd, Kinder davon abzuhalten oder ihnen vorzuschreiben, wie und wie lange sie dieses Werkzeug benutzen. Das ist die eine Seite der Medaille.
Und die andere?
Hüther: Die digitalen Medien sind die ersten Werkzeuge, die man auch zur Affektregulation einsetzen kann. Man kann Langeweile überbrücken, Frust abbauen, Wut abarbeiten, Bedürfnisse stillen. Sobald diese digitalen Medien also zur Affektregulierung eingesetzt werden – und da ist wohl bei 90 Prozent der Fall – dann werden sie hochgefährlich. Es schwindet die Möglichkeit, selbst zu lernen, wie man im realen Leben seine Affekte reguliert. Und dies ist eine der schwierigsten Aufgaben, die wir in unserem Menschsein und Menschwerden zu bewältigen haben. Kommen ersatzweise digitale Medien zum Einsatz, kann man davon abhängig werden. Zu Ende gedacht heißt das, man darf nicht den Einsatz der digitalen Medien ablehnen, sondern man muss Kindern und Jugendlichen helfen, diese Geräte als Werkzeuge zu erkennen und zu nutzen.
Ihr neues Buch und Ihr Vortrag handeln von Würde. In der Schule scheint aber Leistungsdruck und Chaos zu herrschen.
Hüther: Was im Augenblick in der Schule passiert, ist fragwürdig. Doch versuchen wir das Optimum zu beschreiben. Erstens müssen wir in der Schule dafür sorgen, dass kein einziges Kind die ihm angeborene Freude am Lernen und Gestalten verliert. Das wäre die wichtigste Aufgabe. Zweitens sollen Kinder und Jugendliche in der Schule eine Vorstellung und ein Bewusstsein ihrer eigenen Würde herausbilden können. Drittens müssen wir eine Verbundenheit der Kinder mit dem herstellen, was sie später einmal schützen sollen. Also eine Verbundenheit zu Natur, Kunst, Musik usw. Kein Verantwortlicher für Lehrpläne weiß heute, was Kinder in 20 Jahren brauchen. Es kommt nicht mehr auf Wissensaneignung an, sondern ob man sich darauf einlässt, wieder neues Wissen zu erwerben.
Wo passt Würde in die Hirnforschung?
Hüther: Damit Kinder ein Bewusstsein von ihrer Würde im Hirn verankern können, brauchen sie Erfahrungen in der Begegnung mit anderen Menschen, die ihm deutlich machen, dass es wertvoll ist. Wer eine Vorstellung von der eigenen Würde hat, wird nicht mehr zum Objekt und ist nicht mehr verführbar. Wir brauchen eine Vorstellung von unserer eigenen Würde als eine Art Kompass im Leben.
Sie vergleichen Kinder mit Spalierobst. Wie lange werden Eltern noch mitspielen?
Hüther: In Deutschland kommt eine Elterngeneration, die ihre Kinder nicht mehr zwangsweise in die Schule schicken will. Und dieser Form von Schulverweigerung ist unser gegenwärtiges Schulsystem nicht gewachsen. Wenn wir das Schulsystem als Einrichtung verstehen, wo Kinder hinmüssen und etwas lernen müssen, dann kann ich als Hirnforscher nur sagen, das kann nicht funktionieren. Entweder man lernt freiwillig oder es wird eine Dressur. Und da muss man sich fragen, für wen?
Für wen?
Hüther: Für eine Wirtschaft, die dabei ist, unseren Planeten zu ruinieren.
Das Gespräch führte Sabine Strobl