Die Bretagne: Obelix muss Pensionist gewesen sein
Millionen Menschen wissen von Armorica, von seinen netten Bewohnern, deftigen Speisen, romantischen Dörfern und wilden Landschaften – weil sie Asterix und Obelix kennen. Es wird Zeit, die Nachfahren der beiden Comic-Helden in der Bretagne zu besuchen.
Wenn man bei einer Reise nach Frankreich nicht mit „bonjour“, sondern mit „Degemer mat e Breizh“ begrüßt wird, hat man es geschafft: „Willkommen in der Bretagne“ – auf Frankreichs größter Halbinsel ganz im Nordwesten der „Grande Nation“. In der Bretagne spricht man gerne Bretonisch. Aber es ist nicht nur die Sprache, die diese kleine Region von Frankreich – und von allen gängigen Frankreich-Klischees – abhebt.
Statt weicher warmer Sonnenstrahlen wie an der Côte d’Azur muss man an der felsigen Kanal- und Atlantikküste mit rasanten kalten Winden und Regenschauern rechnen. Dementsprechend wachsen in der Bretagne keine Trauben und statt Wein gibt es bestenfalls Cidre – vergorenen Apfelsaft. Statt Gedränge um Strandbuden, in denen Eis und Aperol Spritz angeboten werden, gibt es einsame Strände, an denen man wunderschöne Sonnenuntergänge natürlich auch bei einem Glas Wein genießen kann; wenn man den Wein selbst mitgebracht hat.
Statt blumiger Schwärmereien um die legendäre Haute Cuisine gibt es ätzende Bemerkungen über Schwächen französischer Haubenköche und uneingeschränktes Lob für den bretonischen Eintopf „Kig ha farz“ – eine deftige Mahlzeit aus Rindfleisch, Schweinebauch und Gemüse – und natürlich ehrliche Begeisterung für jede Form von Fischgerichten, Muscheln, Krebsen und Langusten.
Wildschwein als Leibspeise
Bretonische Spezialitäten können übrigens nicht nur die Lust nach mehr, sondern auch Neugierde wecken. Wer etwa ein sanglier grillé probiert hat, ein gegrilltes Wildschwein, will meist mehr über den wohl größten Wildschwein-Jäger aller Zeiten in Erfahrung bringen: Was steckt hinter dieser Comic-Gestalt Obelix, an dessen unbändigem Appetit auf Wildschweinbraten und seiner Begeisterung für tonnenschwere Hinkelsteine?
Eine Frage, die uns nach Carnac führt, auch wenn sie dort nicht zweifelsfrei beantwortet werden kann. In Carnac – an der Bucht de Quiberon rund 150 Kilometer südwestlich der bretonischen Hauptstadt Rennes – stehen immer noch knapp 3000 „Hinkelsteine“ (korrekt als Menhire bezeichnet) auf einem einen Kilometer langen und 150 Meter breiten Feld. Beim Anblick der bis zu vier Meter hohen und viele Tonnen schweren Steinsäulen drängt sich die Frage nach dem Wozu auf. Die Wissenschaft spricht von „kultischen und rituellen Zwecken“ – und lässt mit diesem nebulosen Erklärungsversuch der Phantasie freien Lauf.
Möglicherweise lebte hier vor 4500 Jahren eine Gesellschaft in grenzenlosem Überfluss mit so viel gutem Essen und so wenigen Feinden, dass man aus Langeweile begonnen hat, mit tonnenschweren Steinen zu spielen? Oder war Obelix ein Pensionist, der allenfalls gemeinsam mit einer Rentner-Partie eine Pensionsschock-Therapie ausgelebt hat?
Ein Paradies für Hausboote
Lupenreine Macht- und Geldgier war dagegen der Grund für den Bau von Schloss Josselin, knapp 80 Kilometer nordöstlich der geheimnisvollen Hinkelsteine von Carnac. Die wechselvolle Geschichte des 1000 Jahre alten, mehrfach zerstörten, später wieder auf- und umgebauten Schlosses dreht sich vor allem um Geld von Pilgern, die ein nahes Heiligtum besuchten, und um Maut von Händlern, die das Straßen- und Kanalnetz rund um Josselin benutzten. Dieses Kanalnetz macht den Ort auch heute noch interessant: Josselin liegt am Flüsschen Oust, das ein Teil des 400 Kilometer langen Nantes-Brest-Kanals ist.
Dieser Kanal versandete im vergangenen Jahrhundert zusehends, wird aber seit mehr als 20 Jahren für die touristische Nutzung mit (Haus-)Booten wieder in Schuss gehalten. Dabei wird auch der Begleitweg des Kanals gepflegt, wodurch die gesamte Region ein Paradies nicht nur für Freunde der Fluss-Schiffahrt, sondern auch für Radfahrer geworden ist.
Josselin bietet sich dazu als Standort für Ausflüge in die Umgebung an: Die Steilküste im Westen mit etlichen kleinen Halbinseln samt zum Teil spektakulär positionierten Leuchttürmen ist rund 150 Kilometer entfernt, die Hauptstadt der Region – Rennes mit 210.000 Einwohnern – knapp 90 Kilometer im Osten.
In etwa diesem Entfernungsbereich liegen auch unzählige lohnende Ziele an der Kanalküste. Hier nur einige Beispiele: Trégastel an der Côte de Granit Rose. Durch eine Mondlandschaft aus skurril verformten rötlichen Granitblöcken führt hier ein Abschnitt des 2000 Kilometer langen Wanderweges, der entlang der Küste auf den Spuren der einstigen Zöllner rund um die gesamte Halbinsel Bretagne führt.
Der nordöstliche Endpunkt dieses Zöllnerweges führt nach St. Malo, einer schwer befestigten ehemaligen Hochburg der Sklavenhändler, Schmuggler und Seeräuber. Nach drei Seiten ist die Stadt vom Meer her praktisch uneinnehmbar; gestürmt wird sie heute nur noch von der Landseite – und das gleich von Tausenden Touristen pro Tag.
Orte zum Entspannen
Wer gerne durch historische Städte bummelt, ohne ständig angerempelt zu werden, dem sei das 30 Kilometer südlich von St. Malo gelegene Dinan ans Herz gelegt: Fachwerkbauten, romantische Gassen und eine begehbare Stadtmauer gibt es hier ohne großes Gedränge zu genießen. Und wer es noch ein wenig ruhiger haben will, sollte sich den Strandabschnitt rund um das Cap Fréhel nordöstlich von Erquy nicht entgehen lassen. Durch eine intensiv farbige Heidelandschaft führen hier Wander- und Radwege knapp entlang der Steilküste. Immer wieder führen Pfade zu den etwa 50 Meter tiefer gelegenen Sandbuchten, die man auch in der Saison oft genug für sich alleine hat.
Die heutige Bretagne macht nur vier Prozent der Gesamtfläche Frankreichs aus und ist damit ungefähr so klein wie Kärnten, Nord-, Ost- und Südtirol zusammengenommen. Und so wie Tirol ist auch die Bretagne ein zerrissenes Land: 1941 wurde das Département Loire-Atlantique gegen den Willen der Bevölkerung von der Bretagne getrennt.
Wenn uns nun die Reise in den Süden der Bretagne führt, wird die Reise geopolitisch zu einem Grenzgang. Bekannte man sich bis 1941 an der Loire und in Nantes zu den Bretonen, also zu jenen Kelten, die den Bewohnern von Cornwall und Wales blutsverwandt sind, wandte man sich im Département Loire-Atlantique zusehends dem Kernland Frankreich zu. Dass allerdings die bretonischen Vokabeln für Loire (Liger) und Nantes (Naoned) immer noch verwendet werden, spricht für sich. Auf jeden Fall lohnt es sich, dieses Grenzgebiet zu besuchen.
Fülle an Sehenswürdigkeiten
Hier kann man sich Nantes als Standort aussuchen, von dem aus man die Umgebung erkundet. Die ehemalige Hauptstadt der Bretagne zählt heute mehr als 300.000 Einwohner und bietet eine Fülle von Sehenswürdigkeiten. Ob es das Schloss der Herzöge ist (das letzte Schloss an der Loire vor dem Ozean), der größte botanische Garten Frankreichs, die historische Altstadt oder die Machines de I’île – sie alle werden durch die Voyage à Nantes verbunden. Das ist eine grüne Linie, die am Asphalt aufgepinselt quer durch Nantes zu allen touristisch interessanten Plätzen führt.
Im Umkreis einer Autostunde von Nantes bieten sich gleich mehrere Ziele an. Die Halbinsel von Guérande zum Beispiel. An der Küste lohnt sich ein Besuch der Coopérative agricole – der Agrargemeinschaft von 210 Salzbauern. In Hunderte Salzbecken – jedes so groß wie ein Fußballfeld – wird hier Meerwasser geleitet, das in einer drei Tage dauernden Reise einen 900 Meter langen Kanal zu den Salz-Erntebecken – jeweils in der Mitte dieser Anlagen – zurücklegt. Dort wird an 12 bis 14 Tagen pro Jahr das weiße Gold des Atlantiks – vom feinsten Fleur de Sel bis zum groben Meersalz – geerntet.
Im Hinterland der Halbinsel lockt der Naturpark Brière, eine 500 Quadratkilometer große Sumpf- und Lagunenlandschaft, die man mit einem Paddelboot auf eigene Faust oder in kleinen Touristenkähnen erkunden kann. Ebenfalls nur eine Autostunde von Nantes entfernt lockt die Île de Noirmoutier etwas südlich der Loire-Mündung.
Die Insel selbst ist zwar auch nur so nett, wie viele andere vor der Westküste Frankreichs, die Zufahrt dagegen ein Abenteuer: Während der Ebbe (rund sechs Stunden) kann man die Insel auf einer gut vier Kilometer langen Strecke über den Meeresboden mit dem Auto erreichen; während der Stunden der Flut steht diese „Straße“ vier bis sechs Meter unter Wasser.
Schließlich lohnt auch noch das gut 80 Kilometer flussaufwärts gelegene Angers einen Besuch. Kulturfreaks werden sich den größten jemals in Europa gewebten Wandteppich im einstigen Schloss von Ludwig IX. nicht entgehen lassen. Feinschmecker werden sich für Frankreichs größte Champignon-Zuchten begeistern. In Cave des Roches zum Beispiel – die Ortschaft heißt tatsächlich „Höhlen im Felsen“ – entstanden durch den unterirdischen Abbau von Kalktuff-Steinblöcken zum Bau der Loire-Schlösser Hunderte Kilometer lange Kavernen. Diese wurden über etliche Jahrhunderte als Wohnraum für die Ärmsten der Landbevölkerung genutzt und sind heute spektakuläre Pilzzucht-Anstalten.
Ein Genuss zum Schluss
Und wenn wir schon an der Loire gelandet sind – hier beginnt der Weinbau. Und Loire-Weine sind hervorragende leichte Tischweine, die – direkt beim Bauern gekauft – oft sogar nur wenig mehr kosten als ein Liter Benzin oder Diesel. Hier lohnt es sich sicher auch, das Auto einmal ein paar Tage stehen zu lassen. (Stefan Fuisz)