Die Volksschuloberstufe in Österreich ist ausgestorben
Zuletzt gab es in Tirol noch zwei Volksschuloberstufen, mit Ende des Schuljahrs 2017 mussten diese aber schließen. Die noch bestehenden, immer noch so genannten Volksschuloberstufen sind Sonderkonstrukte, die wenig mit der ursprünglichen Form gemein haben.
Innsbruck – Jetzt gibt es sie nur noch am Papier: Still und heimlich ist die Volksschuloberstufe in Österreich ausgestorben. Bei dieser Schulform wechselt man nach der vierten Klasse nicht an eine Mittelschule oder AHS, sondern bleibt am Volksschulstandort und wird weiter vom Klassenlehrer unterrichtet. Zuletzt gab es nur in Tirol zwei Volksschuloberstufen, mit Ende des Schuljahrs 2017 mussten sie schließen.
18 Schüler an drei Volksschuloberstufen sollte es derzeit eigentlich laut Daten von Statistik Austria und Bildungsministerium in Österreich geben. Rückfragen bei Schulleitung und Schulaufsicht zeigen allerdings: Die Zahlen stimmen nicht. Zum Teil sind es Schüler mit Behinderung, die in einer höheren Volksschulstufe gemeinsam mit nicht-behinderten Kindern unterrichtet werden, zum Teil andere Sonderkonstrukte. „Die klassische VS-Oberstufe scheint demnach in Wahrheit ausgestorben zu sein“, heißt es auf Anfrage aus dem Bildungsressort. Rechtlich möglich wäre eine solche Schulform allerdings immer noch, wenn auch nur „in entsprechenden Sonderfällen“.
Lange Zeit war die 1869 per Reichsvolksschulgesetz eingeführte Volksschuloberstufe die klassische Schulform für die Zehn- bis 14-Jährigen in Österreich. Lediglich in den Städten waren an die Volksschulen ab der 6. Schulstufe sogenannte Bürgerschulen angeschlossen, wo hauptsächlich die Kinder von Handwerkern oder Kaufleuten einen etwas höherwertigen Abschluss machen konnten. Die Volksschuloberstufe blieb für die 5. bis 8. Schulstufe aber außerhalb größerer Städte weiterhin die Norm, daran änderte auch die Einführung der Hauptschule anstelle der Bürgerschule 1927 wenig.
Ab den 1940er-Jahren immer mehr Hauptschulen
Erst mit Ende der 1940er verlor die Volksschuloberstufe an Zulauf; der Versuch der „Österreichischen Landschulerneuerung“, sie durch Schulversuche attraktiver zu machen, konnte daran auf lange Sicht nichts ändern. Der Grund: Immer mehr Menschen wollten für ihre Kinder Bildung, die deutlich über Lesen, Schreiben und Rechnen hinausgeht; Anbietern von Lehrstellen war das Volksschuloberstufenzeugnis zunehmend nicht mehr genug. Parallel eroberten die Hauptschulen immer mehr auch den ländlichen Raum, die Versorgung mit öffentlichen Verkehrsmitteln bzw. Schulbussen wurde immer besser und die Schülerschaft damit mobiler.
In der Folge zog die Hauptschule immer mehr Schüler von den Volksschuloberstufen ab, die dortigen Schülerzahlen verdoppelten sich zwischen 1946 und Mitte der 1950er. 1962 kam dann der große Wendepunkt: Die „relative Hauptschulpflicht“ wurde eingeführt. Alle Volksschulabsolventen, die dem Pflichtsprengel einer Hauptschule angehören und deren Leistungsniveau ausreicht, mussten an eine Hauptschule wechseln.
Die Folge: An den Volksschuloberstufen blieben nur noch jene, die nicht als „hauptschulreif“ galten oder – zahlenmäßig weit relevanter – in derart entlegenen Gegenden wohnten, dass ein Pendeln an die Hauptschulen als nicht zumutbar gesehen wurde. Noch weiter verstärkt wurde der Abfluss Richtung Hauptschule durch die generelle Einführung eines ersten Zugs für die leistungsstarken und eines zweiten Zugs für die leistungsschwächeren Schüler.
Am Ende nur noch in ländlichen Regionen
Zuletzt gab es die Volksschuloberstufe nur noch in ländlichen Regionen, wo man den Kindern den weiten Weg zur nächsten Hauptschule nicht zumuten wollte. Der Unterricht sah dabei je nach Standort unterschiedlich aus, schildert der österreichische Bildungshistoriker Wilfried Göttlicher (Technische Universität Dresden) im Gespräch mit der APA: Abhängig von der Schülerzahl wurden die Sechs- bis 14-jährigen Kinder einer Volksschule je nach Alter in meist ein bis drei Klassen aufgeteilt. Bei sehr wenigen Schülern wurden durchaus auch alle Kinder zwischen sechs und 14 im selben Raum unterrichtet, bei größeren Schülerzahlen bildeten die älteren Kinder ab der 4. oder 5. Schulstufe eine eigene Klasse. Die Schüler einer Klasse wurden dann je nach Alter in meist zwei oder drei „Abteilungen“ eingeteilt. Während der Lehrer sich wechselweise einer der Gruppen widmete (meist mit Frontalunterricht), mussten die anderen in „Stillbeschäftigung“ Aufgaben bearbeiten.
Dieser Schulalltag hat laut Göttlicher gute wie schlechte Seiten: Durch die „Stillbeschäftigung“ lernten die Schüler besser, ihr Lernen selbst zu organisieren und in Gruppen zusammenzuarbeiten. Ein einzelner Lehrer, der das gesamte Fachspektrum bis zur 8. Schulstufe vermitteln soll, stoße allerdings eher an seine Grenzen als mehrere Fachlehrer. Die Bildungsforschung gehe außerdem davon aus, dass schulische Bildung dann am besten funktioniert, wenn es soziale Interaktion mit einer größeren Gruppe anderer Kinder gibt. „Wenn Schule über das Niveau einer größeren Familie nicht hinausgeht, fehlen gewisse Möglichkeiten von Anregungen und Welterfahrung, die Zehn- bis 14-Jährige machen können sollten, und das ist möglicherweise in wirklich entlegenen Kleinschulen zuletzt nicht der Fall gewesen.“
Annemarie Augschöll, Bildungswissenschafterin an der Freien Universität Bozen, verweist noch auf eine weitere Folge: die fehlende Möglichkeit, seine Leistungen mit denen von Altersgenossen zu vergleichen. Wenn etwa nur zwei Kinder desselben Jahrgangs miteinander das Klassenzimmer teilen, führe das beim Schüler mit schwächeren Leistungen dazu, dass er sich herabgesetzt fühle, während der stärkere sich weniger bemühe. (APA)