69. Berlinale: Keine eindeutigen Favoriten im diesjährigen Wettbewerb
Berlin/Wien (APA) - Der diesjährige Berlinale-Wettbewerb geht ohne eindeutigen Favoriten für den Goldenen Bären zu Ende. Auch in früheren Ja...
Berlin/Wien (APA) - Der diesjährige Berlinale-Wettbewerb geht ohne eindeutigen Favoriten für den Goldenen Bären zu Ende. Auch in früheren Jahren war schwer zu prognostizieren, wie die Jury entscheidet, aber zumindest hatte sich ein Spitzenfeld für die Prämierungen herauskristallisiert. Diesmal war aber kein wirklich herausragender Film dabei. Nach keiner Pressevorführung gab es Bravo-Rufe.
Zudem endete die Kategorie Wettbewerb bereits einen Tag früher als geplant, weil der chinesische Beitrag „One Second“ des Regisseurs Zhang Yimou offiziell aus technischen Gründen sein Land nicht verlassen konnte. Allerdings wird vielfach gemutmaßt, dem Beitrag über die Zeit der Kulturrevolution in China könnte aus politischen Gründen die Teilnahme bei der Berlinale verwehrt worden sein.
Auch um „Elisa und Marcela“ der spanischen Regisseurin Isabel Coixet gab es Aufregung, weil der vom Streamingdienst Netflix produzierte Film nicht in den heimischen Kinos gezeigt werden wird. Der Verband der unabhängigen Kinobetreiber hatte protestiert, und so galt die Premiere zuletzt als gar nicht mehr so sicher. Der Film basiert auf der wahren Geschichte eines lesbischen Paares, das sich im erzkatholischen Spanien zu Beginn des 19. Jahrhunderts trauen ließ, indem sich eine der beiden Frauen als Mann verkleidete. Der Schwarz-Weiß-Film lässt bedingungslose Liebe und gesellschaftliche Normen der Zeit hart aufeinanderprallen.
Auch im österreichischen Beitrag „Der Boden unter den Füßen“ von Marie Kreutzer geht es um Unvereinbarkeit von öffentlich und privat: Der Karrierefrau steht zunehmend die Verpflichtung für die kranke Schwester im Weg. Wie immer drängen sich mehr weibliche als männliche Darstellungen für eine Auszeichnung auf. Etwa die kleine Helena Zengel in ihrer furiosen Darstellung eines schwer verhaltensauffälligen Mädchens im deutschen Film „Systemsprenger“, oder Zorica Nusheva in der (nord-)mazedonischen Produktion „God exists, Her Name is Petrunya“. Sie spielt darin eine junge Frau über 30, die keine Arbeit findet. Als sie zufällig in eine kirchliche Prozession gerät, bei der alljährlich junge Männer ein Kreuz aus dem Fluss tauchen, trägt sie den Sieg davon, der aber von der patriarchalischen Gesellschaft nicht anerkannt wird. Mit stoischer Ruhe und sympathischer Hartnäckigkeit widersetzt sie sich einem immer ratloser werdenden Männersystem aus Popen, Polizei und Dorfjugend.
In Erinnerung bleiben werden die Bilder aus „Öndög“, die Ruhe der weiten Steppe in der Mongolei, wofür er sich für einen Kamerapreis anbieten würde. Ein Film mit subtilem Humor und wenigen, aber eindrucksvoll komponierten Bildern, die an der Schlachtung eines Schafes ebenso wie an der Geburt eines Kalbes teilhaben lassen.
Auch der norwegische Beitrag „Pferde stehlen“ mit Stellan Skarsgard weist der skandinavischen Natur in satten Farben eine bedeutende Rolle als berauschende, aber auch bestimmende Kulisse für vieles zu, das dort zwischen Menschen passiert und ihnen zustößt. Langsam läuft die Handlung in der Einsamkeit ab, vielleicht ein Spur zu langsam. Die Schroffheit der anatolischen Bergwelt bestimmt den türkischen Film „A Tale of Three sisters“, drei Mädchen, denen der Sprung in die Stadt nicht gelungen ist, und die sich im Haus des Vaters wieder in die archaisch-dörflichen Regeln einordnen. Der hellste Kopf ist der von allen anderen für den Dümmsten gehaltene Viehhirte, der letztlich an diesen Strukturen scheitert.
Die schließlich 16 statt 17 Filme sind allesamt von guter Qualität, einige sogar recht aufwändig in Szene gesetzt, wie etwa der Eröffnungsfilm „The Kindness of Strangers“ oder „Mr. Jones“. Geht es im einen Film um eine Mutter, die mit ihren beiden Kindern vor dem gewalttätigen Vater nach New York flüchtet, beschäftigt sich der andere mit einem britischen Journalisten, der in den 30er-Jahren in die Sowjetunion reist und über die in der Ukraine unter Stalin verursachte große Hungersnot berichtet.
Der bestimmt unerträglichste Film dieses Wettbewerbs ist „Der goldene Handschuh“ von Fatih Akin, nach einem Tatsachenroman von Heinz Strunk über einen vierfachen Frauenmörder in Hamburg. Er zelebriert die Morde auf der Leinwand und führt die unterste Gesellschaftsschicht von Sankt Pauli wie in einem Zoo abstoßender Tiere gnadenlos vor. Der outrierende Hauptdarsteller Jonas Dassler legt dabei seine Figur wie den Glöckner von Notre Dame an.
Der Film kam bei der Kritik recht gut an, ebenso überraschend gut wie die beiden Streifen „Ich war zuhause, aber“ der deutschen Regisseurin Angela Schanedec und „Synonymes“ des israelischen Regisseurs Nadav Lapid. Im ersten Film geht es um eine Mutter in Berlin und ihre zwei Kinder, im anderen um einen jungen Israeli, der vor seiner Heimat nach Paris flieht und dort nur noch auf Französisch kommunizieren will. Bei beiden Beiträgen erschließt sich die Intention der Regie einem größeren Kinopublikum nicht, weshalb sie wohl als „Kunstfilm“ abzuheften sind. Was sie andererseits wiederum für eine Auszeichnung verdächtig erscheinen lässt.
Ebenfalls gelobt wurde der kanadische Film „Ghost Town Anthology“ von Denis Cote, in dem ein Autounfall dörfliche Strukturen ins Wanken bringt. Gutes Mittelfeld sind „Piranhas“ über eine Jugendgang in Neapel und „So long, my Son“: Der chinesische Film begleitet drei Stunden lang eine Familie, die erst den eigenen Sohn durch einen Unfall, dann einen angenommenen verliert, als dieser wegzieht. Ganz nebenbei werden die rigiden Bestimmungen Chinas zur Einkindfamilie und deren brutale Auswirkungen auf die Betroffenen beleuchtet. Vielleicht gibt es ja für diesen Film zumindest einen Drehbuchpreis. „Grace a Dieu“ schließlich greift das Schweigen der katholischen Kirche beim Missbrauchsthema anhand des aktuellen Beispiels von Lyon auf.
Nach Ende des Wettbewerbs stellt sich die Frage, warum dort nicht solche Filme vertreten waren, die außer Konkurrenz gezeigt wurden: „Farewell to the Night“ etwa von Andre Techine, die spannend aufgebaute Geschichte über die Besitzerin eines Reitgestüts (Catherine Deneuve), die dahinter kommt, dass sich ihr Enkelsohn als Islamist radikalisiert hat und diesen erst einmal in den Pferdestall sperrt, damit er nicht dem Dschihad entgegen reisen kann. Oder das völlig uneitle und klug montierte Selbstporträt der großen Dame des französischen Films Agnes Varda, „Varda par Agnes“. Die Entscheidung der Jury wird diesmal nicht leicht sein.
(S E R V I C E - www.berlinale.de)