Interview

Ernst Grissemann: „Ich habe noch relativ viel vor“

Ernst Grissemann, 1934 in Imst geboren, entdeckte schon früh seine Liebe fürs Radio.
© Thomas Böhm

Ernst „The Voice“ Grissemann wird heute 85 Jahre alt und denkt keine Sekunde daran, sich zur Ruhe zu setzen.

Innsbruck — Mit seiner unverwechselbaren Stimme und seiner gewinnenden Art begeisterte Ernst Grissemann über Jahrzehnte das Radio- und Fernsehpublikum. Die TT hat anlässlich seines heutigen Geburtstags mit ihm über sein ereignisreiches Leben und seine Radiokarriere gesprochen.

Wann haben Sie begonnen, fürs Radio zu arbeiten?

Ernst Grissemann: Im Jahr 1945 kam eine große Wende im Radio. Statt schreiender Nazis und Marsch blasender Musikkapellen war plötzlich amerikanische Musik zu hören. Genau zu diesem Zeitpunkt habe ich das Radio kennen und lieben gelernt. Die gesprochene Sprache hat mich außerdem immer sehr fasziniert. Denn um etwas korrekt vorzutragen, muss man erst einmal richtig sprechen lernen, speziell als Tiroler Oberländer. (lacht) Also habe ich eine Sprech-Ausbildung absolviert. Nach der Matura habe ich gesehen, dass die französische „Sendergruppe West" in Innsbruck Sprecher sucht. Dort habe ich mich gemeldet und wurde genommen.

Und 1954 waren Sie erstmals im Radio zu hören.

Grissemann: Ich kam schon 1953 zum Radio, durfte aber zunächst nicht vors Mikrofon, sondern war das „Beiwagerl" des diensthabenden Sprechers. Heute ist das anders: Jeder, der über eine Ausdrucksfähigkeit verfügt, darf vors Mikrofon, egal ob er mit Sprachfehlern zu kämpfen hat oder Mundart spricht. Damals war das völlig undenkbar.

Hatten Sie bei der Sendergruppe West schon eine eigene Sendung?

Grissemann: Nein, damals gab es noch keine persönlich moderierten Sendungen. Man hat den Programmablauf angesagt.

Sie haben Ende der 60er-Jahre den Radiosender Ö3 mitbegründet. Wenn Sie heute Hitradio-Ö3 einschalten, was denken Sie dann?

Grissemann: Ja, dieser Sender hat sich natürlich fundamental verändert. Damals lief nicht nur Unterhaltungsmusik, sondern es war auch Platz für ernste Musik. Überhaupt war jedes musikalische Genre vertreten, vom Chanson bis zu südamerikanischer Musik, Bossa Nova etwa, der damals gerade modern wurde.

Welche Sendung haben Sie besonders gern moderiert?

Grissemann: Musik zum Träumen. (lacht) Das war sehr angenehm, weil man gemeinsam mit der ausgestrahlten Musik Stimmung machen konnte. Die Sendung lief außerdem um Mitternacht, da war es still im Studio.

Sie haben in den 1960er-Jahren noch mit Fernschreibern gearbeitet. Was halten Sie von Social Media?

Grissemann: Ich bin ein Verweigerer, weil ich meine Kraft zu denken woanders hinlenken möchte. Letzten Endes dient Social Media dazu, dem persönlichen Drang nachzugeben, seine eigenen Gedanken der ganzen Welt mitzuteilen in dem Glauben, die Welt hätte darauf gewartet. Das interessiert mich überhaupt nicht.

Kürzlich waren Sie zu Gast in der Sendung Ihres Sohnes „Willkommen Österreich". Er wirkte nervöser als sonst. Wie würden Sie Ihre Beziehung zu ihm beschreiben?

Grissemann: Wenn man den Vater in der eigenen Sendung vor sich sitzen hat, hat man natürlich eine zusätzliche kleine Schwierigkeit zu bewältigen. (lacht) Wir haben ein sehr gutes Verhältnis. Er ist ein hervorragender Satiriker mit einem ernsten Hintergrund.

Gab es jemals Differenzen zwischen Vater und Sohn?

Grissemann: Christoph kann Differenzen auf clevere Weise aus der Welt schaffen. Er ist ein anpassungsfähiger Mensch, und er ist einer, der seine Standpunkte zu verteidigen weiß, ohne dabei andere zu beleidigen. Er spielt nur gerne den Beleidiger, so wie ein Schauspieler vielleicht gerne einen Mörder spielt. (lacht)

Sie haben in Ihrem Leben sehr viele interessante Persönlichkeiten getroffen, etwa Leonhard Bernstein oder Axel Corti. An welche Begegnung erinnern Sie sich besonders gern?

Grissemann: Ja, es ist nach so langer Zeit tatsächlich schwer zu sagen, weil es sehr viele Begegnungen waren. Manchmal entstehen Freundschaften, wie etwa mit dem Musiker Reinhard Mey oder dem Schauspieler Dietmar Schönherr. Es gab aber auch Menschen, die ich nur einmal getroffen habe, und trotzdem haben sie mich ungemein bereichert.

Sie haben aufgrund Ihrer außergewöhnlichen Stimme den Beinamen „The Voice" erhalten. Haben Sie immer an Ihrer Stimme gearbeitet?

Grissemann: Das musste ich. Stimmbildung ist etwas Körperliches, auch die Stimmbänder müssen trainiert werden. Es ist wie im Sport, wenn man nicht trainiert, wird man nichts mehr reißen.

Sie wurden 1934 in Imst geboren. Ihre Aussprache verrät dies nie. Können Sie den Imster Dialekt überhaupt noch?

Grissemann: Aber ja. Es gibt Bänder im Archiv von Radio Tirol, wo wir ganze Gedichtlawinen in Imster Mundart aufgenommen haben. Im Stadtmuseum Imst wird auch der Imster Dialekt vorgestellt. Da ist meine Stimme mit dialektaler Färbung zu hören. Ich bin sehr stolz darauf, dass die Imster mir diese Aufgabe anvertraut haben.

Sie haben in der „Willkommen Österreich"-Sendung die Schauspielerin Sophie Rois zitiert, die in einer Rede sagte: „Man muss Menschen nicht verstehen, aber man muss sie respektieren." Wie sehen Sie die derzeitige politische Entwicklung?

Grissemann: Mit Kritik und mit Ängstlichkeit und mit dem Wissen, dass ich persönlich im Grunde nur sehr wenig beeinflussen kann. Das generiert wiederum die Angst vor zukünftigen Entwicklungen.

Heute feiern Sie Ihren 85. Geburtstag. Wie geht es Ihnen damit?

Grissemann: Eigentlich habe ich das Gefühl, 185 Jahre alt zu werden. Wenn man schon so lang gelebt hat und sich jeden Tag aufs Neue mit dieser Welt beschäftigt, dann merkt man, dass man unglaublich viel hinter sich hat. Aber so wie ich jetzt aus der Wäsch' schau, hab ich noch relativ viel vor.

Das Interview führte Gerlinde Tamerl