Kammerspiel über Kommerz und Konsumkritik: Ingrid Nolls „Goldschatz“
Zürich (APA/dpa) - Man nehme sechs Personen unterschiedlichen Geschlechts und Charakters, versetze sie in eine Wohngemeinschaft in einem zug...
Zürich (APA/dpa) - Man nehme sechs Personen unterschiedlichen Geschlechts und Charakters, versetze sie in eine Wohngemeinschaft in einem zugigen Bauernhaus und würze das ganze mit Goldtalern, Sex und ein bisschen Crime. Ingrid Noll wählt diese Zutaten für ein gesellschaftskritisches Experiment, das sie in ihrem Roman „Goldschatz“ durchspielt. Was dabei herauskommt, beschreibt sie in gewohnt witzig-ironischem Ton.
Im Mittelpunkt dieses Kammerspiels der 83-jährigen Erfolgsautorin steht die Studentin und Ich-Erzählerin Beatrix - kurz Trixi, die das Haus auf dem Lande von ihrer Mutter zur Verfügung gestellt bekommen hat. Unter dem Motto Gegenstrom will die Enkelin der 68er Generation mit Gleichgesinnten in dem runtergekommenen Bauernhaus ein nachhaltiges Leben ohne Komfort und Konsum ausprobieren. Trendige Kleidung oder iPhones sind - zumindest vorerst - tabu.
Doch die von Gleichaltrigen despektierlich Späthippies und Altpapiersammler genannten Idealisten kommen schnell an ihre Grenzen. Das alte Gebäude ist kalt, die Arbeit in Haus und Garten anstrengend, Waschmaschine und Kühlschrank werden schmerzlich vermisst. Die hehren Ziele erfüllen die drei jungen Frauen und zwei Männer immer weniger - ganz nach dem Sprichwort „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“.
„Goldschatz“ ist Ingrid Nolls 15. Roman. Ihr Werk ist in 26 Sprachen übersetzt worden. Neben Deutschland, Österreich und der Schweiz hat sie nach Angaben ihres Zürcher Verlages Diogenes besonders viele Leser in Spanien, Russland und China. Die Idee für den als Ort des Geschehens entspringt eigenem Erleben. Nach dem Tod einer langjährigen Patientin ihres Mannes, eines Internisten, erlaubten deren Erben, Noll sich in dem Gebäude zu bedienen. „Ich war mit meiner Tochter da. Vieles, was im Roman vorkommt, haben wir gesehen - die uralten Leinennachthemden, die Bauernmöbel“, erzählt die Schriftstellerin der Deutschen Presse-Agentur. Zudem habe eine Freundin ein altes Bauernhaus gekauft, um es selbst zu renovieren. „Das hat mich inspiriert, in meinem Buch junge Leute ein solches Projekt angehen zu lassen“, sagt die Mutter von drei Kindern und Großmutter von vier Enkeln.
Wer bei „Goldschatz“ einen lupenreinen Krimi mit den Noll-typischen mordenden Frauen wie in ihrem letzten Roman „Halali“ erwartet, der wird enttäuscht. Die Untat ist in die Vergangenheit verlegt worden: Zwei Freundinnen, darunter die damalige Besitzerin des Hauses, bringen den als Deserteur aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekehrten Ehemann der einen um die Ecke. Und sie eignen sich dessen einer schlesischen Bauersfrau geraubten Goldschatz an. Die WG hingegen bleibt verschont von Kapitalverbrechen. „Ich wollte die jungen Leute nicht zur Axt greifen lassen - das passt nicht“, sagt die Autorin.
Die Entdeckung des kleinen Vermögens auf dem Anwesen sorgt in der WG für böses Blut und den weiteren Verfall der guten Vorsätze. Beispiel: Die Shopping-Tour von Trixi und ihrer Freundin Saskia auf den Mannheimer Planken - ein Kaufrausch finanziert aus dem Verkauf zweier Goldtaler. Auch die einzige, die sich allen Verführungen entgegenstemmt, die zur Selbstaufopferung neigende Martina, kann der Anziehungskraft des schnöden Mammons nicht widerstehen. Sie versteckt ihren Teil des Goldfundes vor dem Rest der Gemeinschaft.
Intrigen, Neid, Egoismus, Bequemlichkeit und ein nur knapp verhinderter Selbstmord - das Experiment fliegt den Protagonisten schließlich um die Ohren. Am Ende steht die trickreiche Trixi alleine da und muss sich entschieden: Will sie den Weg des Kommerz beschreiten oder ihre akademische Laufbahn fortsetzen?
Sie zeigt viel Verständnis für ihre Figuren und lässt Trixis gutherzigen Freund Henry sagen: „Vielleicht waren wir noch nicht reif für eine WG.“ Nur Rücksichtnahme, die Fähigkeit zu Kompromissen und Empathie könnten ein solches Vorhaben gelingen lassen, sagt die Autorin. Diesen Tugenden stehen niedere Bedürfnisse entgegen. Um das zu untermauern, stimmt sie den Refrain des Salomon-Liedes aus Brechts Drei-Groschen-Oper an: „Beneidenswert, wer frei davon.“
Ihr selbst ist der innere Schweinehund nicht fremd, der den Verzicht auf den kleinen Luxus so schwer macht: „Ich frage bei Neuanschaffungen halbherzig: Brauchen wir das überhaupt?“ Gebrauchte Kleidung und gelesene Bücher bringt sie dahin, wo sie noch Verwendung finden. Plastikmüll versucht sie, so gut es geht zu vermeiden. Aber sie weiß auch um die eigene Bequemlichkeit: „Und schon hat man wieder gesündigt.“
(S E R V I C E - Ingrid Noll: „Goldschatz“, Diogenes, 368 Seiten, 24,70 Euro)