Autorin Ingrid Noll: „Die kleinen Morde sind das Sahnehäubchen“
Weinheim (APA/dpa) - Kann man mit 83 Jahren noch schwanger werden? Ingrid Noll kann. Kaum hat ihr letztes Kind, ein „Goldschatz“, das Licht ...
Weinheim (APA/dpa) - Kann man mit 83 Jahren noch schwanger werden? Ingrid Noll kann. Kaum hat ihr letztes Kind, ein „Goldschatz“, das Licht der Öffentlichkeit erblickt, verspürt sie eine neuerliche „leichte Schwangerschaft“. Die Autorin ist auch in hohem Alter und trotz zeit- und kraftraubender häuslicher Aufgaben voller Schaffensdrang.
Der mit ihr befreundete, jüngst verstorbene Tomi Ungerer stellte sie einmal als wild auf ihrer Schreibmaschine tippende Schriftstellerin dar, der Tod diktiert ihr von hinten. Alle zwei Jahre bringt die als Krimiautorin bekannte Noll beim Schweizer Diogenes Verlag ein Buch auf den Markt. Jetzt ist es der in einer alternativen Wohngemeinschaft spielende Roman „Goldschatz“.
In welche Richtung das nächste Buch gehen soll, verrät sie mit keinem Wort. Wird es wie „Goldschatz“ ein eher gesellschaftskritischer Roman, bei dem das wiederkehrende Motiv der mordenden Frauen in den Hintergrund tritt, oder dominieren eher die Untaten verzweifelter, habgierige oder gedemütigter Frauen? Noll schweigt wie ein Grab.
Die Frau mit den kurzen grauen Haaren will sich selbst nicht auf ein Genre festlegen lassen: „Ich schreibe Menschengeschichten - die kleinen Morde sind das Sahnehäubchen obendrauf“, erzählt sie der Deutschen Presse-Agentur. In ihrem eigenen Leben spielt Gewalt keinerlei Rolle: „Mein Leben ist ganz bürgerlich und nicht kriminell.“ Sie hasse Streit und Gewalt. Auch die oft im Mittelpunkt stehenden wackligen Frauenfreundschaften ihrer Romane entspringen nicht eigenem Erleben. „Ich habe vier sehr gute Freundinnen, auf die ich mich 100-prozentig verlassen kann.“ Es habe nie Konkurrenz um Männer gegeben: „Wir haben alle früh geheiratet.“ Noll lernte ihren späteren Mann schon als 17-jährige Schülerin kennen.
Mit ihrem Mann, einem Internisten, lebt Noll seit 1967 im beschaulichen Weinheim an der Bergstraße. Er war immer ihr erster Leser, erzählt sie im gemütlichen Wohnzimmer mit antiken Möbeln. Wegen einer Erkrankung ihres Mannes sind jetzt die Kinder gefragt. Ihr Jüngste, eine Germanistin, nimmt dabei die Sprache unter die Lupe, der jüngere ihrer beiden Söhne, ein Ethnologe, achtet eher auf die Logik der Erzählung. „Sie sind freundlich zu mir“, sagt die dreifache Mutter und vierfache Großmutter. Das sei wichtig, denn anfangs sei sie noch sehr empfindlich.
Manche Kritiken seien hilfreich, man könne daraus lernen. Andere wiederum seien einfach gehässig wie jene aus einer Zeitschrift: „Aus jeder Zeile müffelt das Nachklimakterium.“ So etwas sei frauenverachtend und ärgere sie maßlos, sagt Noll. Sie verstehe sich als Feministin, aber keine militante. „Reine Frauenbuchläden fand ich albern.“ Dass Frauen noch immer weniger Geld für gleiche Arbeit erhielten, bringe sie hingegen auf dir Palme.
Eine Frau imponiert ihr besonders - Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wegen ihrer liberalen Flüchtlingspolitik. Noll selbst hat Erfahrung als Flüchtling: 1949 floh sie mit ihrer Familie aus China vor dem Mao-Regime. Nach einem kolonialem Leben mit Dienstboten landete sie für drei Monate in einem Lager in Italien, weil Einreisepapiere fehlten. Die romantischen Vorstellungen der 14-Jährigen von Deutschland als Land des Fachwerks und Kuckucksuhren verflüchtigten sich schnell, als sie mit den Eltern, den beiden Schwestern und einem älteren Bruder bei einem Onkel im hessischen Korbach unterschlüpfen musste. „Es war dort alles knapp.“
Die Schule war für das bisher nur von den Eltern unterrichtete Mädchen eine Tortur. „Ich war in allem völlig verkehrt: Die anderen trugen Trainingshosen und darüber noch Rock und Schürze, während meine Schwestern und ich nur chinesische Flatterkleidchen hatten.“ Mathe- und Sportunterricht waren ihr ein Graus. Lediglich überdurchschnittliche Englischkenntnisse und blendende Deutsch-Noten verhinderten das Sitzenbleiben.
Nach dem Abitur Schule begann Noll ein Studium der Kunstgeschichte und der Germanistik in Bonn, wo ihr Vater eine Arztpraxis führte. Nach dem plötzlichen Tod des Vaters war das Familienbudget sehr knapp. In den Ferien jobbte sie in der Bibliothek des Innenministeriums, eine Erfahrung die sie in ihrem letzten Buch „Halali“ (2017), einer Art Agententhriller aus den 50er-Jahren, verarbeitete. Sie hängte schließlich das Studium an den Nagel und arbeitete bis zur Hochzeit noch zwei Jahre lang als Sekretärin in Bonn. Die Stadt hat ihr übrigens den Titel einer „Ehrenkommissarin“ verliehen.
Zum Schreiben kam Noll erst mit 55, als die Kinder aus dem Haus waren. „Damals hatte ich erstmals ein eigenes Zimmer und Zeit dafür.“ Dabei bestand schon mit neun Jahren der Wunsch, Bücher zu schreiben. In ihrem Erstlingswerk „Der Hahn ist tot“ aus dem Jahr 1991 ist die disziplinierte Versicherungssachbearbeiterin und mehrfache Mörderin Rosemarie Hirte die Hauptfigur. Anders als ihrem neuen Buch „Goldschatz“, einem konsumkritischen Roman, geht es dabei um den verzweifelten Versuch der alternden Ich-Erzählerin, die vermeintliche Liebe ihres Lebens zu gewinnen, auch wenn sie dabei über Leichen gehen muss. Dabei versetzt sich Noll in die Psyche der Frau und urteilt nicht. Das bleibt dem Leser überlassen.
Dieses Buch verfasste sie noch handschriftlich und tippte es wieder und wieder ab. Wenn sie heute nach einer Lesung gefragt wird, wie sie schreibe, antwortet sie gewöhnlich: „mit Federkiel auf Pergament“ - und lacht. Dank ihrer Kinder ist sie längst auf den PC gekommen. Am liebsten schreibt Noll vormittags. Wenn es mal stockt, widmet sie sich manuellen Tätigkeiten. „Beim Arbeiten im Garten oder Gemüseputzen kommen mir die besten Ideen - da macht es auf einmal Klick.“
Auf die Frage nach ihrem Verhältnis zu Männern antwortet sie: „Das ist gut. Meine Heldinnen haben leider kein Talent, sich den richtigen Mann auszusuchen und dann kracht es.“ Es gebe zwei Wege zur harmonischen Beziehung: „Man heiratet früh wie ich und wird dann zusammen erwachsen oder man ist bereits erwachsen und muss dann genau hinschauen, dass man von vornherein gut zusammenpasst.“ Für die Nolls war die frühe Bindung der Schlüssel zum Glück: Das Paar feiert in diesem Jahr Diamantene Hochzeit.