Dichter Günter Kunert schenkt sich zum 90. „Die zweite Frau“

Itzehoe (APA/dpa) - Ein einzigartiges Geschenk hat sich Günter Kunert vor seinem 90. Geburtstag am 6. März selbst gemacht: Gerade ist sein R...

Itzehoe (APA/dpa) - Ein einzigartiges Geschenk hat sich Günter Kunert vor seinem 90. Geburtstag am 6. März selbst gemacht: Gerade ist sein Roman „Die zweite Frau“ erschienen. Geschrieben hat ihn der Dichter schon vor 45 Jahren noch in der DDR. Doch weil das Buch allzu kritisch war, im SED-Staat wohl nicht veröffentlicht worden wäre und ihm bei einer Publikation im Westen wahrscheinlich Gefängnis eingebracht hätte, blieb das Manuskript in der Schublade.

Vor zwei, drei Jahren ging Günter Kunert in seinem Haus im schleswig-holsteinischen Kaisborstel in den Keller, um Texte fürs Deutsche Literaturarchiv in Marbach herauszusuchen. Zufällig stieß er dabei auf den jahrzehntelang vergessenen Roman - eine Beziehungsgeschichte, aber auch eine ironisch-lakonische Offenlegung der Zustände damals in der DDR: Misstrauen, Ängste, keine Reisefreiheit, Versorgungsmängel, Bespitzelung durch die Stasi.

„Das Manuskript hat schrecklich ausgesehen, wie meine Manuskripte immer schrecklich aussehen - manches reingekritzelt oder durchgestrichen“, sagt Kunert. Er ließ den Text abschreiben, las ihn und fand: „So schlecht ist das gar nicht.“

Für Kunert ist dies erst sein zweiter Roman. „Im Namen der Hüte“ erschien schon vor einem halben Jahrhundert. Dabei ist Kunert ein unglaublich produktiver Autor. Vor allem unzählige Gedichtbände prägen seit den 1950er-Jahren sein preisgekröntes Schaffen. Zuletzt erschien 2018 der Lyrikband „Aus meinem Schattenreich“. Aber auch Prosa wie die Autobiografie „Erwachsenenspiele“ (1997) sowie Essays, Reisebücher, Erzählungen, Kinderbücher, außerdem Theaterstücke, Filmdrehbücher und Hörspiele hat Kunert verfasst. Seine Erfahrungen als Gastprofessor für DDR-Literatur an der Universität Texas verarbeitete er in dem Amerika-Report „Der andere Planet“ (1974).

„Günter Kunert ist wahrscheinlich der titelreichste Hanser-Autor, Häuptling des Ältestenrates und einer der Pfeiler, um die die Wendeltreppe Hanser sich herumwendelt“, sagt Hanser-Verleger Jo Lendle. Sein Vorgänger Michael Krüger charakterisiert Kunert, den Freund, als Dichter in der Tradition Heinrich Heines, aber ohne jede Zuversicht in die Menschheit. Weniger bekannt sei Kunerts satirische Ader, die vor allem in den kurzen Prosaskizzen zum Vorschein komme: „In dieser Hinsicht setzt er die Tradition Tucholskys fort.“

Schreiben ist für Kunert existenzielle Selbstvergewisserung. „Sonst könnte ich mich ja gleich erschießen“, sagt er in seinem saalähnlichen, mit eigenen - überwiegend expressionistischen - Gemälden geschmückten Wohnzimmer. Kunert wohnt seit fast 40 Jahren in einer ehemaligen Dorfschule. Nachbarn hat er keine, dafür ein großes Grundstück und freien Blick auf Weiden und Felder.

1979 hat die DDR ihn mit seiner ersten Frau Marianne ausreisen lassen - wie viele andere kritische Geister. Vorangegangen war ein Nervenkrieg. Der SED-Staat hatte es Kunert übel genommen, dass er 1976 einer der ersten Unterzeichner des Protestes gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann gewesen war. In seinem Renault R16 fuhr Kunert mit seiner Frau gen Westen, die geliebten sieben Katzen bekamen für die Fahrt Schlafmittel ins Futter.

Umweltzerstörung, Klimawandel, Überbevölkerung - heute halte er die Menschheit für verloren, sagt Kunert im dpa-Interview. Dass er jede Utopie und Hoffnung in eine gute Zukunft verloren hat, dürfte auch Folge traumatischer Erfahrungen sein. Als Kind musste er, von den Nazis als „Halbjude“ verunglimpft, erleben, wie aus Berlin sein Großvater, ein Onkel und weitere Verwandte deportiert und von den Nazis ermordet wurden. Nach dem Krieg schlugen große Hoffnungen auf einen sozialistischen Neuanfang in der DDR um in Enttäuschung, Zweifel bis zur Abwendung. In Gedichten macht er auch den ökologischen Frevel an der Erde zum Thema.

Seine erste Frau Marianne, mit der er 50 Jahre verheiratet war, starb vor einigen Jahren. Sie liegt auf dem jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee, wo Kunert später an ihrer Seite beerdigt werden möchte. Er hat noch einmal geheiratet und seiner Frau Erika den „neuen“ Roman gewidmet. Was ihm der 90. Geburtstag bedeutet? „Überhaupt nichts.“ Und Wünsche? „Ich habe keine, nicht mal Hoffnungen - oder doch, die eine: Dass ich solange wie möglich noch etwas schreiben kann.“