Vom „Ende der Geschichte“ zum Zeitalter der „Identität“
Wien/Washington (APA) - Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende der bipolaren Weltordnung hat sich die politische Realität nur selt...
Wien/Washington (APA) - Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende der bipolaren Weltordnung hat sich die politische Realität nur selten an Prognosen gehalten. Das gilt auch für die These vom „Ende der Geschichte“, in der Francis Fukuyama den endgültigen Sieg der liberalen Demokratie postulierte. Nun ist es der Begriff der „Identität“, der für den US-Intellektuellen das Zeitgeschehen am besten erklärt.
Es ist gewissermaßen eine unendliche Geschichte, die Fukuyama nun seit 1989 begleitet, und sie ist für ihn wohl eine janusköpfige. Nachdem er 1989 in „The National Interest“ den Aufsatz „The End of History?“ veröffentlichte und 1992 das Buch „The End of History and the Last Man“ folgen ließ, wurde er als knapp 40-Jähriger zum intellektuellen Superstar hochgejubelt. Der Kommunismus lag zerstört am Boden, liberale Demokratie und Marktwirtschaft haben sich als das ultimative Staatssystem durchgesetzt - vermeintlich endgültig, so dass es nach der langen Phase ideologischer und intellektueller Auseinandersetzungen nun vor lauter Konsumorientierung und rein ökonomischer Kalkulationen sogar anhaltend langweilig werden konnte, wie Fukuyama am Ende des Essays in den Raum stellte.
Dass die Geschichte dann doch anders verlaufen und die Demokratie tendenziell sogar auf dem Rückzug ist, brachte ihm immer wieder Kritik und Häme ein. Seitdem hat Fukuyama seine ursprünglichen Thesen nicht verworfen, sie jedoch immer wieder nachjustiert und von Neuem erklärt - am bisher ausführlichsten in den beiden Büchern „The Origins of Political Order“ und „Political Order and Political Decay“.
Auch im Vorwort des aktuellen Buchs „Identität“ darf ein Hinweis darauf nicht fehlen. Zwar räumt er eigene Fehler in seinen Formulierungen ein, anderseits hält der Politikwissenschafter seinen Kritikern vor, das Fragezeichen im Titel seines Essays ignoriert beziehungsweise die letzten Kapitel seines bekanntesten Buchs überhaupt nicht gelesen zu haben. Bereits dort kam der Verweis darauf, dass weder Nationalismus noch Religion von der Weltbühne verschwinden würden und liberale Demokratien das Problem des „Thymos“ nicht vollauf gelöst hätten. Damit beschrieb der griechische Philosoph Platon in seinem Werk „Staat“ jenen Teil der menschlichen Seele, der sich nach Anerkennung und Würde sehnt.
Genau hier knüpft das neue, Anfang Februar auf Deutsch erschienene Buch an. Das Verlangen nach Respekt und Anerkennung dient als gemeinsame Erklärung für so unterschiedliche Phänomene wie den Aufschwung des Nationalismus, des politisierten Islam oder auch von vielen sozialen Bewegungen wie „Black Lives Matter“ oder „MeToo“. Denn was heute wirklich gebraucht werde, so der Politexperte, sei eine Theorie, die über das Rationale hinaus erklärt, was Menschen antreibt. Die zumindest im Westen dominierende ökonomische Denkweise, die das materielle Eigeninteresse als Hauptmotivation menschlichen Handelns versteht, greife viel zu kurz. Zu sagen, dass Mutter Teresa und ein Hedgefonds-Manager jeweils schlicht ihre Nützlichkeit maximieren, lasse einen wichtigen Teil ihrer Motivation außer Acht.
Dieses Motiv führt wie ein roter Faden durch das Buch, das verschiedenste ideengeschichtliche Stränge zu einem theoretischen Überbau zusammenführt, ohne sich in allzu abstrakten Exkursen zu verlieren. Die Identitätsidee im Westen wurde demnach in gewissem Sinne während der Reformation geboren. Erstmals verlieh ihr der Augustinermönch Martin Luther Ausdruck: „Luther war einer der ersten westlichen Denker, die das innere Selbst thematisierten und es höher einstuften als das äußere soziale Wesen“, heißt es da etwa. Mit Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau setzt Fukuyama den Gedanken von Würde und Identität in Aufklärung und Neuzeit fort, und kommt dabei immer wieder auf die Hegelianische These zurück, wonach der Kampf um Anerkennung die treibende Kraft der Menschheitsgeschichte sei.
Den Chancen, die diese neue Aufmerksamkeit für marginalisierte Gruppen bringen kann, stellt der Experte auch die Gefahren gegenüber. Etwa könnte das zunehmende Wirrwarr an unterschiedlichen und sich zum Teil überlappenden Identitäten in einer fragmentierten Gesellschaft münden. Wenn darüber die Probleme älterer, größerer Gruppen vergessen werden, könne das zu ernsten Problemen für die liberale Demokratie führen. Nicht zuletzt würden Rechtspopulisten es derzeit besser verstehen als linksgerichtete Politiker, Identitätsdiskurse zuzuspitzen und zu ihren Gunsten einzusetzen. Sie würden eine direkte charismatische Verbindung zum „Volk“ herstellen, das oft nach sehr eingegrenzten, ethnischen Begriffen definiert werde, die große Teile der Bevölkerung ausschließen.
„Liberale Demokratien haben gute Gründe dafür, sich nicht um eine Reihe unablässig wuchernder Identitätsgruppen zu organisieren, die für Außenstehende unzugänglich sind“, sagt Fukuyama. Die Lösung liege daher nicht darin, die Idee der Identität aufzugeben. Vielmehr gelte es, größere und einheitlichere nationale Identitäten zu definieren, welche die Vielfalt liberaler demokratischer Gesellschaften berücksichtigen.
In 14 kompakt gehaltenen Kapiteln spannt Fukuyama einen breiten Bogen von der „Politik der Würde“ bis zum Schlusskapitel „Was tun?“, das möglichen Lösungsansätzen gegen den Rechtspopulismus gewidmet ist. Allzu gewagte Prognosen unterlässt der Autor dabei geflissentlich. Der ambitionierte Versuch, den Zustand der Welt im Grunde mit nur einem Begriff zu umreißen, geht aber durchaus auf - wenn auch niemals alle Fragen und Widersprüche damit beseitigt sein können.
Eine Danksagung an Donald Trump muss in Zeiten wie diesen wohl immer etwas zwiespältig bleiben. In diesem Fall ist ihm indirekt ein Buch zu verdanken, das einen intelligenten und anregenden Beitrag zur zeitgenössischen Diskussionskultur liefert. Denn wie heißt es schon im ersten Satz des Vorworts: „Dieses Buch wäre nicht geschrieben worden, hätte man Donald J. Trump nicht im November 2016 zum Präsidenten gewählt.“
(S E R V I C E: „Identität“ von Francis Fukuyama ist Anfang Februar auf Deutsch im Verlag Hoffmann und Campe erschienen; 240 S., 22,70 Euro. Fukuyama hält am Donnerstag, 7. März, einen Vortrag mit dem Titel „Identity Politics - The Demand for Dignity and the Nation State‘s Future“ am Campus der ERSTE Stiftung in Wien. Die APA überträgt die Veranstaltung ab 19:30 Uhr via Livestream unter: https://erstestiftung.streaming.at/20190307)