„Anomalie“: Vom gesellschaftlichen Rand und dem Streben nach der Norm
Wien (APA) - Wer bestimmt eigentlich über das, was wir gemeinhin als „normal“ empfinden? Wer ist krank, wer hat bloß eine andere Wahrnehmung...
Wien (APA) - Wer bestimmt eigentlich über das, was wir gemeinhin als „normal“ empfinden? Wer ist krank, wer hat bloß eine andere Wahrnehmung der Realität? Diesen Fragen geht Regisseur Richard Wilhelmer in seinem sehr intimen Dokuessay „Anomalie“ nach, der mit dem - mittlerweile verstorbenen - Protagonisten einen engagierten Gegner der „Zwangspsychiatrisierung“ porträtiert. Ab Freitag im Kino.
Serafin Spitzer führt seine Kamera immer dicht an Fritz Joachim Rudert alias Leonardell, den das Team quer durch Berlin begleitet, wo der hagere Philosoph mit langen weißen Haaren, Vollbart und Rock Flugzettel an seine Mitmenschen verteilt, um „die ferngesteuerten Massen aus ihrem Wahn“ zu befreien. Auch Einblicke in die Arbeit des „Verbands gegen psychiatrische Gewalt in Deutschland“ bietet der 82-minütige Streifen, der trotz der intimen, oft verstörenden Szenen nie in die Voyeurismus-Falle tappt sondern seinem Hauptdarsteller auf Augenhöhe begegnet.
Eingebettet sind die Szenen mit Leonardell in Interviews mit unterschiedlichen Wissenschaftern, die vor der Kamera über Entwicklungen wie Fehlentwicklungen ihres Fachs sprechen. Renommierte Forscher wie der US-amerikanische Psychiater Allen Frances, seine Landsfrau Elisabeth Loftus oder der deutsche Hirnforscher Gerhard Roth geben dabei Einblicke in wirtschaftliche Interessen, wissenschaftliche Ambitionen und politische Zusammenhänge in und um die Welt der menschliche Psyche.
Einer der erschreckendsten Sätze, die im Laufe dieser Interviews fallen, kommt von Allen Frances: „Ich würde sagen, dass die USA derzeit der schlechteste Ort jemals sind, um ernsthaft psychisch zu erkranken. Da meine ich auch das Mittelalter.“ So seien in den USA viele der Obdachlosen psychisch krank, doch statt den Menschen zu helfen, würden sie oftmals ohne Therapie inhaftiert.
„Anomalie“ hinterfragt gesellschaftliche wie psychische „Normen“, die Rolle der Pharmaindustrie und das (gelenkte) Streben der Gesellschaft nach Vereinheitlichung. Mit Leonardell hat der österreichische Filmemacher Richard Wilhelmer, der 2011 mit „Adams Ende“ sein Spielfilmdebüt vorlegte, einen Protagonisten aufgetrieben, der Klischees gleichermaßen erfüllt wie durchbricht und gleichzeitig unaufdringlich für mehr Empathie gegenüber jenen wirbt, die freiwillig oder unfreiwillig am „Rand“ der Gesellschaft stehen.
(S E R V I C E - http://anomalie-movie.com/)