Karas fordert Ende des Einstimmigkeitsprinzips in der EU
TT-Interview mit Othmar Karas, Spitzenkandidat der ÖVP für die Europawahl.
Sie haben gemeinsame europäische Steuerregeln gefordert. Doch Steuern sind ja nationale Kompetenz, und es herrscht Wettbewerb. Wie wollen Sie die nationalen Regierungen dazu bringen, in diesem Bereich zu kooperieren?
Othmar Karas: Wo ein politischer Wille und Vernunft herrscht, dort ein Weg.
Wir haben derzeit die dramatische Situation, dass Großkonzerne wie Amazon und andere im Durchschnitt legal fast keine Steuern bezahlen, die klein- und mittelständischen Unternehmen aber 26 Prozent Steuer. Ich halte das für ungerecht und inakzeptabel und das führt zu einer Wettbewerbsverzerrung und zu Steuerflucht. Daher hat Österreich in der Ratspräsidentschaft sowie die EU-Kommission und das EU-Parlament vorgeschlagen, einen Mindeststeuersatz bei der Digitalsteuer einzuführen. Das ist leider in der letzten Sitzung der österreichischen Ratspräsidentschaft an Deutschland und Frankreich gescheitert.
Das heißt, es waren 26 dafür, und zwei konnten es verhindern - mit dem Hinweis, dass sie eine globale Regelung wollen. Die Ungerechtigkeit bleibt also erhalten, und das versteht und akzeptiert der Bürger nicht. Daher trete ich dafür ein, dass wir uns von einer Minderheit nicht blockieren lassen und eine Lösung auf europäischer Ebene zustandebringen. Gerade hier muss das Einstimmigkeitsprinzip fallen. Die doppelte Mehrheit im Rat – also die Mehrheit der Bürger und die Mehrheit der Staaten – unter Mitentscheidung des Europäischen Parlaments soll das normale Entscheidungsverfahren werden.
Das Problem haben wir ja nicht nur im Steuerbereich, sonder auch in der Außenpolitik.
Was dazu führt – wenn ich Sie unterbrechen darf – dass es ja kaum eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gibt ...
Karas: Es ist viel besser geworden. Es ist ein großes Anliegen der Europäischen Union und Österreichs, Partnerschaftsabkommen mit afrikanischen und arabischen Ländern abzuschließen, um gemeinsam gegen Fluchtursachen zu kämpfen und illegale Migranten einzudämmen. Das ist zuletzt an Ungarn gescheitert. Ich bin dagegen, dass einer alle blockieren kann. Durch Mehrheitsentscheidungen wird die Europäische Union demokratischer, transparenter und handlungsfähiger.
Nehmen Sie Venezuela her. Die halbe Welt tritt dafür ein, den Menschen dort gegen das System zu helfen. Die Demokratie zu stärken gegen die Diktatur. Eine gemeinsame europäische Position ist an einem Land gescheitert – Italien.
Oder nehmen wir den Außengrenzschutz: Grenzschutz ist bisher nationale Zuständigkeit. Die Mitgliedstaaten haben der EU nie eine Zuständigkeit für den Außengrenzschutz gegeben. Aber gleichzeitig wollen alle einen geregelten Schutz der EU-Außengrenzen mit gemeinsamen Standards, einer gemeinsamen Kontrolle, einer gemeinsamen Unterstützung durch Frontex und einer gemeinsamen legalen Migrationspolitik. Alle Versuche, einen stärkeren EU-Außengrenzschutz einzuführen, sind am Veto einzelner Mitgliedstaaten gescheitert. Und hinter dem Widerstand stehen meist innenpolitische und nicht europapolitische Überlegungen.
Europa macht sich also erpressbar.
Karas: Genau. Und eine Gemeinschaft, die erpressbar ist, ist schwach. Wir müssen daran arbeiten, dass wir uns nicht erpressen lassen. Das setzt voraus, dass wir Politiker haben, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und die EU weiterzuentwickeln und nicht nur Stimmung gegen die Europäischen Union zu machen.
Der Brexit hat gezeigt, wohin Verantwortungslosigkeit, taktische Spielereien, Lügen und Eitelkeiten führen können. Der Brexit ist ein tragisches Beispiel, wie man mit Lügen Abstimmungen gewinnen kann, aber kein einziges Problem der Bevölkerung löst und ein ganzes Land ins Chaos stürzt.
Die meisten Menschen, die grundsätzlich proeuropäisch eingestellt sind, werden Ihnen bei Ihrer Kritik am Einstimmigkeitsprinzip zustimmen. Aber in der Praxis hakt es ja nicht nur an den Rechtspopulisten, sondern auch an Regierungen in der politischen Mitte wie jene in Berlin oder Paris, die nicht die Kontrolle abgeben wollen. Gibt es überhaupt eine realistische Chance für die von Ihnen geforderte Reform?
Karas: Die ganze Europäische Union ist eine positive Entwicklung nach vorne. Aber wir sehen jetzt deutlich, wo wir mit unseren Mechanismen an die Grenzen stoßen. Das müssen wir weiterentwickeln. Ich möchte eine Koalition mit den Bürgerinnen und Bürgern eingehen. Ich habe zwei wichtige Koalitionspartner – die Menschen, die mit mir etwas erreichen wollen, und die Zukunft. Vor diese beiden Adressaten möchte ich mich hinstellen und sagen, was notwendig und richtig ist. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass ich dafür eine Mehrheit bekomme. Wenn wir Bürger aufstehen und sagen, haltet uns nicht am Schmäh, macht uns nichts vor, wir wollen eine handlungsfähige EU ...
... also eine Bürgerrevolution gegen die Macht des Rates der Staats- und Regierungschefs?
Karas: Ich bin nicht gegen etwas, sondern für etwas. Ich will die Demokratie beleben. Ich will Beteiligungen der Bürger. Deshalb trete ich wieder an.
Das Gespräch führte Floo Weißmann