Traumatisierte Jesiden-Kinder finden Zuflucht in Schutzeinrichtung

Hasaka (APA/AFP) - Während seiner vierjährigen Versklavung ermordeten Jihadisten seinen Vater und verkauften seine Mutter. Jetzt ist Saddam ...

Hasaka (APA/AFP) - Während seiner vierjährigen Versklavung ermordeten Jihadisten seinen Vater und verkauften seine Mutter. Jetzt ist Saddam frei - und das von der Jihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) 2014 in Teilen des Irak und Syriens ausgerufene „Kalifat“ liegt in Trümmern. Aber die traumatischen Erfahrungen machen dem 15-jährigen Yeziden (Jesiden) nach wie vor schwer zu schaffen.

Saddam gehörte zu einer Gruppe von elf yezidischen Kindern und Jugendlichen, die erst vor einigen Tagen aus dem Dorf Baghouz in Ostsyrien von zumeist kurdischen Kämpfern der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) gerettet wurden. In der letzten Bastion des IS hatte er Wochen in kalten Schützengräben und schmutzigen Kellern verbracht. Jetzt ist er in einem warmen Wohnzimmer der von Kurden betriebenen Schutzeinrichtung für yezidische Kinder in der Ortschaft Goumar in der nordöstlichen Provinz Hasaka.

Die in Baghouz verschanzten Jihadisten hatten die Kinder während der Angriffe der SDF auf das Dorf laufen lassen. Doch das Reden mit einem AFP-Reporter fällt Saddam schwer. Die meiste Zeit schweigt er, presst die Lippen zusammen. Ab und zu sind ihm ein paar leise Worte zu entlocken. Die anderen Kinder in seiner Gruppe - der 15-jährige Saddam ist der Älteste - wollen überhaupt nicht sprechen. Einige von ihnen verhüllen sogar ihr Gesicht.

SDF-Kämpfer brachten die Kinder in das Yeziden-Haus in Goumar, wo sie zusammen leben. Sie tragen farbenfrohe Trainingsanzüge und schlafen auf flauschig bezogenen Matratzen in einem mit Teppichen und Polstern ausgestatteten Raum. Aber die Behaglichkeit ändert nichts: Sobald Saddam über seine Erlebnisse sprechen soll, verkrampft sich bei ihm alles.

Saddam stammt wie die meisten anderen Kinder aus der Sinjar-Region im Nordirak. Als die IS-Miliz das bergige Gebiet im August 2014 eroberte, in dem die kurdischsprachigen Yeziden seit Jahrhunderten lebten, tötete sie die Männer, rekrutierte die Buben als Kindersoldaten, vergewaltigte Frauen und Mädchen und missbrauchte sie als Sexsklavinnen. Noch heute werden tausende Yeziden vermisst, yezidische Frauen könnten in Baghouz in der syrischen Provinz Deir al-Zor an der irakischen Grenze in der Gewalt von IS-Kämpfern sein.

Die IS-Kämpfer sehen die Mitglieder der religiösen Minderheit der Yeziden, die an Seelenwanderung und Wiedergeburt glauben, als „Ketzer“ an. Als nicht-arabische und nicht-muslimische Iraker wurden die Yeziden schon unter Saddam Hussein im Irak verfolgt und vertrieben.

„Es gibt keine Familie aus Sinjar ohne Todes- oder Vergewaltigungsopfer“, sagt Mahmoud Racho, einer der freiwilligen Helfer im Yeziden-Haus. Bisher bot die Einrichtung nach seinen Worten 300 Yeziden Schutz.

Unter Tränen bringt Saddam heraus, dass IS-Kämpfer seinen Vater töteten und seine Mutter verschleppten. Er hat sie und seine vier Geschwister seit vier Jahren nicht gesehen. Ihn selbst hätten die Jihadisten nicht misshandelt. Doch sie hätten ihm Hinrichtungsvideos gezeigt. Die meiste Zeit über hätten sie ihm Koranunterricht erteilt. „Ich mochte sie nicht. Ich wollte nicht bleiben. Ich habe es geschafft, wegzukommen“, fügt er hinzu.

Halifa Hasso, eine weitere Helferin, erklärt Saddams Traumatisierung mit dem, was er durchmachen musste. Dort, wo die Kinder waren, hatten sie „Todesangst“, sagt sie. Anfangs würden die Kinder überhaupt nicht sprechen. Erst nach vier oder fünf Tagen seien sie bereit, etwas von sich preiszugeben. Manchmal vergehen Racho zufolge bis zum ersten Sprechen sogar sechs Monate, insbesondere wenn sich Angehörige noch in der Gewalt der Jihadisten befänden.

Saddam wünscht sich jetzt, wieder bei seiner Mutter zu sein und seinen Brüdern und Schwestern, die in Kanada Zuflucht gefunden haben. Als er daran denkt, wird der Bub plötzlich aufgeschlossener: „Ich will dort hin. Ich habe sie sei vier Jahren nicht gesehen.“ Und er fügt leise hinzu: „Ich vermisse sie schrecklich.“