May pokert auf EU-Gipfel um Brexit-Aufschub - EU zögert

Brüssel/London (APA/Reuters/dpa) - Acht Tage vor dem eigentlich geplanten EU-Ausstieg ringen Großbritannien und europäische Spitzenpolitiker...

Brüssel/London (APA/Reuters/dpa) - Acht Tage vor dem eigentlich geplanten EU-Ausstieg ringen Großbritannien und europäische Spitzenpolitiker um die Dauer des Brexit-Aufschubs. Auf dem EU-Gipfel in Brüssel forderte die britische Premierministerin Theresa May am Donnerstag eine Brexit-Verschiebung bis Juni, während die meisten Staats- und Regierungschefs höchstens einen Aufschub bis zu den Europawahlen Mitte Mai zugestehen wollen.

Für diese Frist gilt demnach allerdings die Bedingung, dass das britische Parlament dem Austrittsvertrag kommende Woche doch noch zustimmt, wie EU-Chefunterhändler Michel Barnier sagte. „Wir haben unser Bestes geben. Die Lösung liegt nun in London.“

Gleichzeitig wächst nach mehr als zwei Jahren Verhandlungen mit London der Frust innerhalb der EU. „Jeder ist ungeduldig“, sagte der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte. „Aber unsere persönliche Einstellung sollte nun keine Rolle spielen ... Wir müssen in den nächsten acht Tagen einen kühlen Kopf bewahren.“ Mit Humor reagierte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker: „Ich wusste gar nicht, dass mein Geduldsfaden so lang ist.“

Die 27 EU-Staats- und Regierungschefs berieten am Nachmittag in Brüssel nach einem Vortrag Mays, wie sie mit den britischen Wünschen einer Verschiebung umgehen sollen. Dazu ist ein einstimmiges Votum nötig. Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel rief angesichts der heiklen Lage zu Vorsicht auf. „Jeder ist sich bewusst, dass es sich hier schon um ein Ereignis von historischer Bedeutung handelt“, sagte sie vor dem EU-Gipfel. „Deshalb müssen wir auch behutsam vorgehen.“ Man müsse bis zur letzten Stunde verhandeln und dabei sowohl die Interessen der EU als auch des Königreiches im Sinn haben. Zudem müsse bei der von London geforderten Verschiebung des Austritts vom 29. März auf den 30. Juni darauf geachtet werden, dass die Europawahl Ende Mai rechtens bleibe.

EU-Ratspräsident Donald Tusk schlug bei der Vorbereitung des Gipfels eine noch deutlichere Verlängerung der EU-Mitgliedschaft Großbritanniens von mindestens einem Jahr vor. Damit soll das Land ausreichend Zeit bekommen, um seine Brexit-Strategie zu überdenken.

Der irische Ministerpräsident Leo Varadkar mahnte, die EU müsse den Briten entgegenkommen. Zudem müsse jegliche Verschiebung des Brexit-Termins über den 29. März hinaus einen Zweck erfüllen. Es gebe aber im Kreis der EU-Partner eine gewisse Aufgeschlossenheit gegenüber einem Aufschub. Laut EU-Vertrag müsse Großbritannien an den EU-Wahlen vom 23. bis 26. Mai teilnehmen, wenn das Land dann noch Mitglied sein sollte.

Die Worte von Irland haben derzeit großes Gewicht in Brüssel. Das Land mit nur vier Millionen-Einwohnern hätte unter einem harten Bruch des größten Handelspartners mit der EU am meisten zu leiden, die Wirtschaft würde massiv einbrechen. Zudem würde die derzeit offene Grenze zu Nordirland - Teil des Königreichs - schlimmstenfalls über Nacht ein harte Grenze. Dort müssten dann Personen und Waren wieder kontrolliert werden. Die EU-Partner versicherten Dublin, dass es nicht zu einem Rückfall in die Vergangenheit kommen werde. Doch die speziell für die Grenze ausgehandelte Lösung im Ausstiegsvertrag ist der größte Streitpunkt mit London und Grund dafür, warum das britische Parlament das Abkommen vehement ablehnt.

May will die Abgeordneten nächste Woche wieder über den Vertrag abstimmen lassen. Das Parlament sei nun am Zug, sagte sie. Parlamentspräsident John Bercow lehnt eine dritte Abstimmung bisher allerdings mit der Begründung ab, dass ein Votum nur Sinn mache, wenn die Vorlage in ihrer Substanz geändert sei.

Auch der französische Präsident Emmanuel Macron plädiert für eine kurzfristige Verschiebung, falls das Unterhaus den Ausstiegsvertrag billigt. „Aber wir müssen als EU klar sein.“ Der Austrittsvertrag sei zwei Jahre lang verhandelt worden. „Er kann nicht neu verhandelt werden.“

Eine Verschiebung des EU-Austritts Großbritanniens ist nach Ansicht von Bundeskanzlers Sebastian Kurz (ÖVP) „sinnvoll und richtig“, um einen harten Brexit zu verhindern. Großbritannien dürfe aber nicht bei der Wahl mitmachen. „Es wäre absurd, wenn ein Land die EU verlässt und gleichzeitig an der Wahl teilnimmt.“

Der Ausstiegsvertrag ist juristisch verbindlich und wurde Ende vorigen Jahres ausgehandelt. May unterschrieb ihn mehrfach. Allerdings muss das Parlament in Westminster zustimmen. Das Vereinigte Königreich will die EU am 29. März nach gut 45 Jahren Mitgliedschaft verlassen. Bis Ende 2020 soll es eine Übergangsphase geben, in der dort noch EU-Recht gilt. Die Zeit, die notfalls um zwei Jahre verlängert werden kann, gilt aber nur, wenn Großbritannien vor dem Austritt den Vertrag mit der EU ratifiziert.

Viele Briten scheinen inzwischen das Gezerre um den EU-Austritt satt zu haben. Mehr als eine Million Menschen unterzeichneten bis Donnerstag eine ans Unterhaus gerichtete Online-Petition, in der gefordert wird, den Brexit einfach abzusagen und in der Europäischen Union zu bleiben. Zeitweise war die Webseite Medienberichten zufolge wegen des Ansturms nicht zu erreichen. Das Parlament muss den Inhalt jeder Petition mit mehr als 100.000 Unterzeichnern für eine Debatte berücksichtigen