Auch zehn Jahre nach Katastrophe geht tiefer Riss durch L‘Aquila
20 Milliarden Euro flossen seit dem verheerenden Erdbeben vom 6. April 2009 in den Wiederaufbau der Universitätsstadt in den Abruzzen. Die Bevölkerung profitierte davon bisher kaum. Hoffnung wird in neue Technologien gesetzt.
Von Micaela Taroni/APA
L‘Aquila – Endlose 38 Sekunden lang bebte die Erde in jener Schreckensnacht am 6. April 2009 in L‘Aquila. Das Hauptbeben hatte eine Stärke von 5,9 auf der Richterskala, zahlreiche Nachbeben erschwerten die Bergungsarbeiten. 309 Menschen kamen ums Leben, 1600 wurden verletzt. Zu den Todesopfern zählten auch 50 Studenten aus der Universitätsstadt.
Fast zwei Tage lang musste die damals 20-jährige Eleonora Calesini unter dem Ruinen des Studentenheims, in dem sie gewohnt hatte, ausharren, bevor sie lebend geborgen werden konnte. Die Studentin an der Filmakademie in L‘Aquila ist taub und hörte den starken Lärm nicht, bevor die Erde zu beben begann. Trümmer stürzten auf sie ein, ein Balken zerschmetterte ihre linke Körperseite. Neben ihr starb ihre Freundin Enza, mit der Eleonora das Zimmer teilte.
„Seit dem Erdbeben ist ein Fuß halb gelähmt und eine Hand kraftlos, doch ich bin am Leben“, erzählt Calesini. Über ihre 42 Stunden unter den Trümmern und das Leben danach berichtet sie in einem neuveröffentlichten Buch mit dem Titel „Il Movimento dei sogni“ (Die Bewegung der Träume), das sie ihren Rettern und ihrer Freundin Enza widmete. „Kein Tag geht für mich vorbei, ohne dass ich an sie denke“, sagt Calesini, die ihr Studium abgeschlossen hat und aus ihrem Werk nun einen Film machen will.
Innenstadt kämpft um Auferstehung
Calesini hat den Weg zu einem Neubeginn geschafft, dasselbe gilt aber nicht für den Stadtkern L‘Aquilas. Zehn Jahre nach dem Erdbeben kämpft die Innenstadt immer noch um ihre Auferstehung. Die Zukunft der Hauptstadt der Region Abruzzen, die von fast 3000 Meter hohen Bergen umgeben ist, scheint noch ungewiss, obwohl die Zeichen des Neubeginns unübersehbar sind. Mehrere Gebäude des vom Erdbeben zerstörten Stadtzentrums wurden renoviert. Sämtliche Palazzi aus dem Mittelalter und dem Barock sind komplett instand gesetzt. Ihre Fassaden erstrahlen nach der Restaurierung in neuem Glanz, der Stadtkern ist aber noch zum Großteil verlassen.
Der Corso Vittorio Emanuele war einmal die Flaniermeile L‘Aquilas. Heute sind dort die Gerüste um die leer stehenden Gebäude allgegenwärtig, an vielen Häusern hängen Schilder „Zu verkaufen“. Es fehlt an Geschäften und Lokalen. Neben einer Bank und einigen Büros ist auf der Hauptachse der Innenstadt kaum ein Shop offen. Der Domplatz ist desolat leer. Das historische Zentrum mit Kunstwerken aus der römischen Antike, dem Mittelalter, der Renaissance, die fast komplett zerstört wurden, ist immer noch eine große Baustelle.
Beschwerliches Leben
Nach dem Beben war hier zunächst alles Rote Zone, keiner konnte mehr in dem Gebiet leben. Jetzt ist der Stadtkern zwar wieder bewohnbar, doch das Leben dort ist beschwerlich. Baufahrzeuge verursachen Staub und Schmutz bei den Arbeiten, mit dem Auto kommt man nicht an die Wohnungen heran. All das macht den Stadtbewohnern den Alltag kompliziert, sodass viele Menschen in ihrer provisorischen Unterkunft außerhalb L‘Aquilas bleiben.
„Der Stadtkern ist noch eine große Phantomstadt, ein Museum zerstörter Paläste. Der Bevölkerung, die ihre Häuser verloren hat und außerhalb des Stadtkerns wohnt, fehlt ein Treffpunkt im Zentrum. Die Stadt hat einfach ihre Seele verloren“, beklagt Antonio Salvemini, Klavierlehrer am Konservatorium von L‘Aquila, im Gespräch mit der APA.
Noch immer bedürfen 4200 Familien Unterstützung
Aus Protest wegen des schleppenden Wiederaufbaus reichte der Bürgermeister von L‘Aquila, Pierluigi Bondi, vor zwei Wochen seinen Rücktritt ein. Die Stadt habe von der seit Juni amtierenden Regierung in Rom zu wenig Unterstützung erhalten, L‘Aquila warte noch immer auf die öffentlichen Gelder zum Abschluss des Wiederaufbaus. Es fehle an koordinierten Strategien, damit der Stadtkern wieder zu leben beginne und junge Menschen in die Innenstadt zurückkehren können.
Bis heute flossen über 20 Milliarden Euro in den Wiederaufbau. Doch wirklich profitiert davon haben nicht die Bürger. Diese leben vor allem in den Satellitenvierteln, die nach dem Beben rund um die Stadt errichtet wurden. Von den 67.000 Personen, die infolge des Erdbebens ihr Heim verloren haben, sind 4200 Familien noch auf Unterstützung angewiesen. Hunderte provisorischer Häuser wurden in den Jahren nach dem Beben in der Peripherie errichtet. So ist eine große zersiedelte Vorstadt entstanden, ohne Zentrum. Das soziale Leben der geschichtsträchtigen Universitätsstadt ist zum Erliegen gekommen. Das Beben hat das Problem der Landflucht verstärkt.
Hoffnung auf Kultur und Technologie
„Zum Glück ist L‘Aquila trotz der Tragödie des Erdbebens eine vom kulturellen und wissenschaftlichen Standpunkt her lebendige Stadt geblieben“, meint Salvemini. Die prestigereiche Universität mit zahlreichen technischen Fakultäten locke immer noch Studenten aus ganz Italien nach L‘Aquila, eine Stadt, die nur eine Stunde Autofahrt von Rom entfernt liegt. Auch das Konservatorium und eine Kunstakademie sind Magneten für Jugendliche. In der städtischen Konzerthalle, die 2012 vom Stararchitekten Renzo Piano gebaut wurde, halten namhafte Musiker Konzerte ab.
Mit Steueranreizen bemüht sich L‘ Aquila, Start-ups anzulocken. Dank Synergien mit der Universität soll die Stadt zu einer“ Smart City“ werden. Unterirdisch werden Tunnels gezogen, in denen alle Versorgungsleitungen und Glasfaserkabel verlaufen. So soll L‘Aquila zu einer der ersten fünf italienischen Städte werden, in denen die „ 5G“ -Technik - ein superschnelles Internet - zum Einsatz kommt.
„Schließlich hat L‘Aquila viel zu bieten. Die Stadt hat eine menschliche Dimension, die Berge drum herum sind wunderbar. Die Menschen sind hilfsbereit und freundlich. Die schwere Erfahrung des Erdbebens hat sie gelehrt, dass man zusammenhalten und kooperieren muss, will man den Neustart schaffen. L‘Aquila ist eine Stadt, in der sich ein junger Mensch vorstellen könnte zu leben“, so Salvemini.