Experte: Selenskyjs jüdische Abstammung in Ukraine bisher irrelevant
Kiew (APA) - Für breite ukrainische Wählerschichten hat die jüdische Abstammung von Präsidentschaftskandidat Wolodymyr Selenskyj bisher kein...
Kiew (APA) - Für breite ukrainische Wählerschichten hat die jüdische Abstammung von Präsidentschaftskandidat Wolodymyr Selenskyj bisher keine Rolle gespielt. Dies erklärte der Kiewer Politologe Wjatscheslaw Lichatschow am Donnerstagabend gegenüber der APA. In der emotionalen Auseinandersetzung vor den Stichwahlen am 21. April sei die Instrumentalisierung antisemitischer Motive gegen Selenskyj jedoch möglich.
„Selenskyjs nationale oder religiöse Zugehörigkeit wurde in der Ukraine nicht breiter diskutiert“, sagte der auf politischen Extremismus und nationale Minderheiten spezialisierte Politologe. Vertreter der jüdischen Community hätten sich nur in kleinem Kreis darüber gefreut, dass ein Jude in den Umfragen führe. Gleichzeitig habe es auch nur wenige negative Äußerungen zur Abstammung des Präsidentschaftskandidaten gegeben, betonte Lichatschow. Konkret sprach er von einem Facebook-Posting des Parlamentsabgeordneten Oleksandr Bryhynez (Block Petro Poroschenko) sowie Aussagen des „rechtsradikalen Showmans“ Dmytro Kortschynskyj, der im Poroschenko-nahen Fernsehsender „Prjamyj“ sowie in Interviews erklärt hatte, dass ein Jude nicht Präsident der Ukraine sein könne.
„Diese Thematik kam in der öffentlichen Diskussion aber früher auf: Der Politiker Wadym Rabinowisch, gleichzeitig Vorsitzender einer jüdischen Organisation, kandidierte bei den Präsidentschaftswahlen 2014 und sagte damals, dass seine Kandidatur die pluralistische Toleranz und die Reife der ukrainischen Gesellschaft demonstriere“, erzählte Lichatschow. 2019 habe Rabinowitsch im Wahlkampf jedoch den oppositionellen Präsidentschaftskandidaten Jurij Bojko unterstützt und dies unter anderem damit begründet, dass es nicht richtig sei, wenn ein Jude in einem christlichen Land Präsident sei.
Lichatschow erinnerte aber auch daran, dass es in vergangenen Wahlkämpfen sowohl gegen den aktuellen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko als auch gegen die ehemalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko gerichtete erfolglose Versuche gegeben habe, sie als vermeintliche Juden zu diskreditieren. In den letzten drei Jahren sei die Tätigkeit des jüdischstämmigen Ministerpräsidenten Wolodymyr Hrojsman in der Ukraine normal bewertet worden, dieser habe in seiner Zeit als Bürgermeister von Winnyzja auch große Wahlerfolge einfahren können. „Das Faktum der Zugehörigkeit zur jüdischen Community hindert nicht daran, gewählt zu werden und populär zu sein. Andere Kriterien sind viel wichtiger als die ethnische Zugehörigkeit“, sagte der Experte.
Antisemitismus sei keine aktuelle, für die Bevölkerung interessante Form der Xenophobie und es habe in den letztem Jahrzehnt eine beachtliche positive Dynamik gegeben, begründete Lichatschow. Dass Juden objektiv Teil einer erfolgreichen urbanen Mittelklasse seien, habe ein positives Image in der ukrainischen öffentlichen Meinung geschaffen. „Die Ukraine hat sich vom sowjetischen und noch älteren kulturellen und historischen Erbe (des Antisemitismus, Anm.) deutlich entfernt und ist nun Teil eines westeuropäischen Kontextes, in dem die Beziehungen zu Israel eine diesbezüglich wichtigere Rolle spielen“, sagte er. In der Ukraine dominiere dabei ein positives Image von Israel als starkes und erfolgreiches Land, das es eher nachzuahmen und weniger als zu kritisieren gelte.
Vor den Stichwahlen am 21. April befürchtet Lichatschow jedoch dennoch antisemitische Motive: Er beobachte eine äußerst starke Polarisierung der Gesellschaft und die Atmosphäre sei ziemlich aufgeheizt. Das sei der Kontext, der für derartige Einwürfe gut geeignet sei und es könnte daher die Versuchung geben, Selenskyj im Zusammenhang mit seiner jüdischen Abstammung zu diskreditieren oder das Image von (Selenskyj-Unterstützer, Anm.) Ihor Kolomojskyj als jüdischer Oligarch diesbezüglich zu instrumentalisieren, erklärte der Experte. „Angesichts einer ungehemmten politischen Diskussion sowie einer nicht wirklich entwickelten Polemik-Kultur in einem Land, in dem in der Öffentlichkeit sehr viel möglich ist, scheint mir das logisch zu sein. In letzten Tagen habe ich das nicht gesehen. Ich schließe aber nicht aus, dass dieses Thema verwendet werden wird“, sagte er.
(Das Gespräch führte Herwig G. Höller/APA)
(Alternative Schreibweisen: Wladimir Selenski, Aleksandr Briginez, Dmitri Kortschinski, Wadim Rabinowitsch, Juri Bojko, Wladimir Grojsman, Igor Kolomojski)