Blick von außen

Anton Pelinka: (K)ein Nachruf auf die Sozialdemokratie

Die SPÖ muss sich – teilweise – neu erfinden, will sie nicht wie die Whigs oder die SFIO zur Geschichte werden.
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Am 1. Mai wird die SPÖ wieder ihren Festtag begehen, doch was wird da noch gefeiert? Der Arbeiterpartei ist längst das Proletariat abhandengekommen. Die SPÖ muss sich zum Teil neu erfinden. Eine Anleitung.

Von Anton Pelinka

Parteien sind nicht für die Ewigkeit gedacht. Sie sind keine Glaubensgemeinschaften, und wenn sie sich als „politische Religion“ verstehen, sind sie nicht von dieser Welt – der Welt demokratischer Politik. Parteien erbringen politische Dienstleistungen. Sie sorgen dafür, dass Wählerinnen und Wähler eine Auswahl haben, wenn sie darüber entscheiden, wer im Namen „des Volkes“ regiert.

Parteien entstehen und vergehen. Wer erinnert sich an die Whigs, an die Partei, die im Vereinigten Königreich im 17., 18. und 19. Jahrhundert wesentlich die Politik bestimmte – im Sinne eines vorsichtigen, eines maßvollen Fortschritts? Aus den Whigs wurde die Liberale Partei, und diese wurde in den 1920er-Jahren zu einer Kleinpartei. In den USA waren die Whigs in den ersten Jahrzehnten nach 1776 die Partei, die vor allem den Norden der USA dominierte – bis sie schließlich der Republikanischen Partei des Abraham Lincoln Platz machen musste.

Die ehrwürdige, mächtige Partei der französischen Sozialisten – die SFIO, die Partei von Jean Jaurès und Léon Blum – löste sich 1969 auf. Doch unmittelbar danach wurde eine neue Sozialistische Partei gegründet, PS, und in deren Zentrum stand jemand, der davor gar nicht Sozialist war, sondern ein Repräsentant der liberalen Mitte – François Mitterrand. Etwas mehr als zwei Jahrzehnte danach war Mitterrand Präsident und die Sozialisten kontrollierten die Nationalversammlung der Fünften Republik.

Die SPÖ hat eine lange Geschichte, repräsentiert von Viktor Adler, Karl Renner und Bruno Kreisky. Es ist eine Geschichte von Niederlagen, aber mehr noch von Erfolgen. Und es ist auch die Geschichte einer Partei, die als einzige der politisch-weltanschaulichen Lager Österreichs beanspruchen kann, sich niemals mit einer Diktatur identifiziert zu haben. Diese Geschichte reicht – für einen prominenten Platz im Museum der Geschichte. Aber sie reicht nicht, um der Partei eine ebenso prominente Zukunft zu sichern.

Die SPÖ kann eine solche Zukunft haben. Unter der Voraussetzung, dass der freie und faire demokratische Wettbewerb bestehen bleibt, gibt es einen gesellschaftlichen Bedarf an einer Sozialdemokratie. Freilich: Dieser Bedarf ist nicht derselbe, der 1889 in Hainfeld zur Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs geführt hat – und auch nicht der, dem die 1945 neu gegründete SPÖ entsprochen hat.

Die SPÖ heute kann sich nicht primär als die Partei der Ziegeleiarbeiter vom Wie­nerberg verstehen, deren Verelendung Adler thematisierte – denn diese Arbeiter gibt es nicht mehr. Die SPÖ ist auch nicht die Partei Renners und Kreiskys, die einer selbstbewussten, in Wahlen gestärkten Sozialdemokratie ein wesentliches Mitspracherecht in der österreichischen Politik sichern konnten – denn die SPÖ wird seit Langem bei Wahlen nicht mehr gestärkt. Die SPÖ muss auch zur Kenntnis nehmen, dass die Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter schon seit Jahrzehnten FPÖ wählt: Der „Arbeiterpartei“ SPÖ ist das „Proletariat“ abhandengekommen.

Was die SPÖ braucht, das ist eine nüchterne Analyse. Die kann mit der Einsicht beginnen, dass es das „Proletariat“ des Karl Marx nicht mehr gibt. Es ist zu einem Kleinbürgertum geworden, das mehr zu verlieren hat als seine „Ketten“. Die österreichische Arbeiterschaft genießt – auch dank der SPÖ – einen gewissen Wohlstand; und eben deshalb sind die Arbeiterinnen und Arbeiter ansprechbar für Angstparolen, die vor Zuwanderung warnen. Soll die SPÖ in den Chor derer einstimmen, die vor allem das Schließen der Grenzen verlangen?

Das wäre aus mehreren Gründen eine wenig aussichtsreiche Strategie. Denn in Sachen Fremdenfeindlichkeit wird die SPÖ die Freiheitlichen nur schwer übertreffen können. Überdies würde eine Partei, die nicht nur Solidarität, sondern immer „internationale“ Solidarität auf ihre Fahnen geschrieben hat, jede Glaubwürdigkeit verlieren. Und: Das „Proletariat“, dem Marx die Zukunft zugeschrieben hat, verliert insgesamt an gesellschaftlicher Bedeutung. Gewinner der demographischen Entwicklung sind diejenigen, die durch ein Mehr an Bildung sich gesellschaftliche Mobilität erarbeiten.

Eben deshalb macht es Sinn, wenn die SPÖ auf das Europa der EU setzt; auf die Freiheiten des Binnenmarkts, der nicht nur den sozialen Status slowakischer Krankenpflegerinnen in Österreich sichert, sondern auch die Lebenschancen junger Menschen aus Österreich stärkt. In diesem Sinn kann die SPÖ von Bruno Kreisky lernen: Sie muss die Partei der Modernisierung sein – und nicht die Partei, die Schutz vor Modernisierung verspricht.

Die SPÖ muss sich – teilweise – neu erfinden, will sie nicht wie die Whigs oder die SFIO zur Geschichte werden. Sie muss freilich nicht ihre Grundsätze ändern – soziale Gerechtigkeit in Verbindung mit der politischen Freiheit, die nur die Demokratie garantieren kann. Aber die SPÖ muss diese Grundsätze unter den Rahmenbedingungen völlig geänderter Voraussetzungen konkretisieren. Und der entscheidende Wandel ist das Ende nationalstaatlicher Handlungsfähigkeit.

Gerechtigkeit hat immer mit Gleichheit zu tun, soziale Gerechtigkeit mit sozialer Gleichheit. Aber wer sind die, die in Österreich heute am meisten von Ungleichheit, von Ungerechtigkeit betroffen sind? Es ist die wachsende Zahl derer, die vom politischen Prozess ausgeschlossen sind, obwohl sie in Österreich wohnen, in Österreich arbeiten. Es sind die „Gastarbeiter“ und deren Familien, deren Kinder und Kindeskinder, denen der Zugang zur österreichischen Staatsbürgerschaft nicht gerade erleichtert wird. Es sind die Menschen, die innerhalb der letzten Jahrzehnte nach Österreich gekommen sind, um zu bleiben – und deren Status als Flüchtlinge, Asylwerber, Migrantinnen und Migranten sie aus der Gemeinschaft derer ausschließt, um die sich Parteien bemühen. Denn die sind an Stimmen interessiert – und wer nicht wählen darf, ist letztlich politisch uninteressant.

Die SPÖ braucht das Rad nicht neu zu erfinden. Sie kann sich ein Beispiel an den beiden sozialdemokratischen Parteien nehmen, die um 2000 besonders erfolgreich waren: Tony Blairs Labour Party und Gerhard Schröders SPD. Blairs Ruf litt, weil er 2003 für die britische Beteiligung am US-Militärschlag gegen den Irak verantwortlich war; und Schröder wird kritisiert, weil seine Tätigkeit als Regierungschef auch die Verantwortung für die mit dem Begriff „Hartz IV“ verbundenen Reformen umfasste. Doch unabhängig von der verständlichen oder auch berechtigten Kritik: Blairs Labour Party und Schröders SPD standen auch für den Abschied von einem staatssozialistischen Kurs; sie vertraten die Verbindung von sozialem Engagement und marktwirtschaftlicher Orientierung.

In der SPÖ scheint es Pflicht zu sein, den „Neoliberalismus“ zu geißeln. Doch was ist die Alternative dazu? Doch nicht Verstaatlichung; die betreibt ohnehin die Regierung Kurz-Strache, etwa in Form der Zurückdrängung der NGOs. Eine Alternative zum „Neoliberalismus“ wäre ein „Sozialliberalismus“, der die Logik der Marktwirtschaft nicht grundsätzlich in Frage stellt, der aber bestimmte Effekte des Marktes korrigiert – zugunsten der sozial Schwachen; ein Sozialliberalismus, der auf die Einsicht baut, dass dies nur im Kontext der EU erfolgreich sein kann.

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