Oktopus beim Muschel-Spätkauf
Berückende Totenklage: Joachim Meyerhoff feiert Ignaz Kirchner mit einem fulminanten Theaterabend.
Von Bernadette Lietzow
Wien – Im vergangenen September ist Ignaz Kirchner verstorben. Hinterlassen hat er die Erinnerung an einen wunderbar unaufdringlich-eindringlichen Bühnengiganten und nicht zuletzt eine Bibliothek von 280 so genannten „Klebebüchern“. Seit den 1970er-Jahren füllte Kirchner die aus China-Läden bekannten schwarz-roten Notizbücher mit Fundstücken seiner Weltbeobachtung. Zeitungsausschnitte über Gräuel und Absurdes, Promis und schräge Vögel, Reklame und Dessous-Mode, Briefe, Kärtchen und immer wieder handschriftliche Kommentare und Literaturzitate hat der Schauspieler da mit grandioser Akribie über die langen Jahre zusammengetragen.
„Es ist ein solcher Schatz“, wird Joachim Meyerhoff im Lauf der dreistündigen Akademietheater-Uraufführung von „Land in Sicht“, seinem „Projekt für Ignaz Kirchner“, einmal beglückt bekennen. Zu einem seelenvollen und streckenweise hochkomödiantischen Kleinod gerät dann auch der Abend, der in seinen abstrusen Verzweigungen und feinsinnigen Verstiegenheiten viel mehr ist als ein Epitaph für den verehrten Kollegen. Für das beispiellose Schauspieler-Doppel Gert Voss und Ignaz Kirchner begeisterte sich schon der angehende Schauspieler Meyerhoff, am Burgtheater entwickelte sich zwischen ihm und Kirchner eine fruchtbringende Arbeitsfreundschaft, die in ihrer unvergesslich-verrückten Arbeit „Robinson Crusoe“ gipfelte.
Davon und von den Ideen, welche die beiden sich offensichtlich in der Liebe für Hintergründiges treffenden Charaktere in Kirchners von Rauch und seinem Lieblingsparfum geschwängerten Kabuff ausheckten – auf eitle Kämpfe um die „Einser-Garderobe“ verzichtete der Burgtheaterstar dankend –, erzählt Meyerhoff mit jener Verve, für die man seine autobiografischen Romane so schätzt. Ebenso klug wie humorvoll reflektiert er mit dieser Unternehmung den Beruf des Schauspielers wie die Institution Theater, drechselt Geschichten über eine Begegnung mit einem Laaser Marmorunternehmer oder einem süditalienischen Radfahrer – siehe Titel – zu ergreifend witzigen Fantasie-Skulpturen und kontrastiert diese mit spitzen Bonmots den politischen Zustand Österreichs betreffend.
Seine Mitstreiter auf der Bühne sind neben Keyboarder Philipp Quehenberger und der Pianistin Johanna Marihart die Schauspieler Mirco Kreibich und Fabian Krüger, deren lärmender Slapstick mit Holzlatte wie Motorsäge das Geschehen lustvoll begleitet. Nach der Pause erhält das Publikum über Overhead Einblick in Kirchners Kladden und damit ein Stück weit in die Gehirnwindungen eines besessenen Menschen-Darstellers, für den seine Hefte wohl Quelle seiner außergewöhnlichen Bühnenkraft waren.