Seismografische Kurzprosa: Thomas Stangls „Geschichte des Körpers“
Wien (APA) - „Es ist Zeit, mit dem bequemen Erzählen aufzuhören und die Perspektive umzudrehen“, ermahnt sich der Autor. Eine der drei alten...
Wien (APA) - „Es ist Zeit, mit dem bequemen Erzählen aufzuhören und die Perspektive umzudrehen“, ermahnt sich der Autor. Eine der drei alten Frauen, von denen sein Text handelt, meldet sich gleich zu Wort: „Du hilfst mir nicht, wenn du mich niederschreibst. Du holst mich nicht zurück. Ich bin tot.“ Für die Erzählung „Die Toten von Zimmer 105“ erhält Thomas Stangl am Samstag den Wortmeldungen-Literaturpreis.
Der mit 35.000 Euro dotierte und heuer erst zum zweiten Mal vergebene Wortmeldungen-Literaturpreis wird für „herausragende literarische Kurztexte verliehen, die in der Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen den Nerv der Zeit treffen“. Stangl trifft mit seinem Text, in dem ein Zivildiener mit großer Sensibilität drei Patientinnen in einem Heim beschreibt, tatsächlich „den Nerv der Zeit“: Altenpflege, Demenz, der Umgang der Gesellschaft mit der älteren Generation, sind ohne Zweifel eines der künftig noch virulenter werdenden Themen unserer Zeit. Und doch wäre nichts falscher, Thomas Stangl als rein sozialkritisch engagierten Autor misszuverstehen. Das beweist auch sein eben erschienener erster Kurzprosa-Band „Die Geschichte des Körpers“, in dem die prämierte Erzählung enthalten ist.
Ein „bequemer Erzähler“ war Stangl nie, weder für sich noch für seine Leser, und den von ihm eingeforderten Perspektivenwechsel unternimmt er so häufig, dass einem schwindlig werden könnte. Ständig versorgen einen in Klammer gesetzte Einschübe mit Zusatzinformationen oder Gedankensprüngen, immer wieder folgt die erzählerische Struktur eher lyrischen als epischen Prinzipien. Im Mittelpunkt steht die Sprache. Denn nur mit ihr entsteht unser Bild der Welt.
„Abends gehen wir alle vors Haus und warten auf die Monster.“ Schon beim allerersten Satz der ersten Erzählung sträuben sich die Nackenhaare. Doch Stangl, 1966 geborener Wiener und vielfach ausgezeichneter Autor, geht es nicht um die Horrorshow, und seine Erzählung „Monster“ liest sich diametral anders als der eben erschienene gleichnamige Roman von Kurt Palm. Das Unbehagen, dem Stangl in allen 30 in seinem neuen Buch enthaltenen Erzählungen auf der Spur ist, lässt sich nur schwer greifen. Stangls Texte rollen als „kleine pelzige Kugeln“ durch die Welt, alle Sinne und alle Sätze angespannt, und versuchen Witterung aufzunehmen.
Alles wirkt vertraut und fremd zugleich. Engel gehen durch den von Stangl abgesteckten Raum, Nägel werden in Schläfen eingeschlagen, Tauben beginnen zu sprechen, Begegnungen mit Fremden werden zu Wiederbegegnungen mit sich selbst. Ständig muss man auf der Hut sein. „Sonst würden sie noch merken, dass sie längst alle alt oder gestorben sind. Dass all das vorbei ist und nichts mehr bedeutet.“
Diese an Verrücktheit grenzende Hellhörigkeit gegenüber dem, was unter der Oberfläche vorangeht, erinnert an Büchners Woyzeck. Wie bei ihm entstehen aus leisen seismografischen Schwankungen ungeheure Sätze. Sätze wie diese: „Er war glücklich, weil er gesehen hatte, dass die Welt offen stand (wenn auch nicht unbedingt ihm).“
(S E R V I C E - Thomas Stangl: „Die Geschichte des Körpers“, Erzählungen, Literaturverlag Droschl, 128 Seiten, 18 Euro)