„Missing People“ von Béla Tarr: Imponierende Gesichter-Geschichten
Béla Tarrs Film-Installation „Missing People“ verleiht Wiener Obdachlosen eine eindringliche Stimme.
Wien –Zu sitzen kommt man neben einem Einkaufstrolley, etwas weiter entfernt kann man eine rosa gekleidete Babypuppe ausmachen. Geleitet wurde das Publikum gleichsam über den Hintereingang in die von der Zuschauertribüne befreite Halle E des Museumsquartiers. Die Pracht der einstigen Winterreithalle lässt sich bestaunen, umso mehr, als man in die Szenerie einer offensichtlich gerade beendeten eleganten Stehparty gerät: Rot gedeckte Tische, Champagnerflaschen, Gläser, leer gegessene Teller und Glitzer-Konfetti bestimmen die Mitte des Raumes.
An den Seiten erzählen Hausrat, Kleidung und ein wüstes Allerlei eine andere Geschichte. Der ungarische Filmemacher Béla Tarr, dessen Opus magnum „Sátántangó“ (1994) zu den Meisterwerken der neueren Filmgeschichte zählt, verwirklichte im Auftrag der Wiener Festwochen ein herausragendes Projekt, das, formal an der Schnittstelle zwischen Film, Performance und Installation angesiedelt, die Kehrseite der heilen kapitalistischen Welt zeigt. Gerät man doch, als der Vorhang sich öffnet und den Blick auf die große Leinwand freigibt, mitten hinein in prekäre Lebensrealität von in Wien lebenden Obdachlosen, die Tarr über die kommenden 95 Minuten aus der Unsichtbarkeit holt.
„Mein ganzes Werk dreht sich um die Würde des Menschen. Ich versuche stets, diese Würde zu beschützen und zu zeigen, dass jeder das Recht auf ein normales Leben hat“, formulierte der 1955 in Pécs geborene Künstler in einem Interview sein Credo, das in hohem Maß auch auf „Missing People“ zutrifft.
Es sind eindrückliche Geschichten, die in Tarrs ruhigen, von langen Kameraeinstellungen geprägten Schwarz-Weiß-Bildern entstehen. Allein von minimalistischer Musik begleitet, die gelegentlich an Töne von Wagner, immer mehr jedoch an Schuberts Klänge anstößt, erzählen die Gesichter der Menschen vielstimmig, jedoch ohne Worte, von ihrem Leben am Rand.
Die Partygäste sind sie, später richten sie sich in dem ihnen im Alltag verschlossenen Hochkultur-Ort ein, stickt eine Frau ein Deckchen. In einer Sequenz tanzt ein Paar zu nicht vernehmbarem Sound, ein alter Mann richtet sich seine Schlafstelle.
Bewegend und von vorsichtiger Zärtlichkeit getragen, gelingt Tarr gemeinsam mit dem Riesen-Ensemble seiner Protagonisten ein aufwühlendes Dokument der Selbst- ermächtigung. Ein weiteres Beweisstück für die gelungene Wiedergeburt der Wiener Festwochen. (lietz)