Revolution mit Potenzial: Justiz im Bann des digitalen Akts
Still und leise vollzieht sich in der Justiz gerade eine Revolution mit Potenzial. Unter dem Arbeitstitel „Justiz 3.0“ wird der Papierakt seit 2013 vollständig durch eine digitale Aktenführung ersetzt.
Von Reinhard Fellner
Innsbruck, Wien – Aktenberge, dicke Ordner, das „Warten auf den Akt“ – all dies ist in der heimischen Justiz schon bald Geschichte. Das Ende des Papierakts ist besiegelt. Schon seit jeher zählte die österreichische Justiz zu den Vorreitern der Digitalisierung. Aber auch andere Länder schlafen nicht, um effiziente Arbeitsabläufe und internationalen Datenaustausch sicherzustellen.
So hat beispielsweise Estland seine Behörden bereits komplett digitalisiert. Amtswege sind nicht mehr nötig, alles kann per Handysignatur von zu Hause aus erledigt werden. Dies spart den Esten zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, um 100 Euro einzunehmen, gibt der Staat lediglich 40 Cent aus. Unter dem Eindruck immer schmalerer Budgetvorgaben horchte da auch das heimische Finanzministerium auf.
So wurde 2013 die Revolution des digitalen Akts beschlossen. Unter dem Arbeitstitel „Justiz 3.0“ wird der Papierakt vollständig durch eine digitale Aktenführung ersetzt. Ein elektronisches Integrationsportal – das eIP – verbindet dabei alle bereits schon bestehenden digitalen Funktionen, wie den „Elektronischen Rechtsverkehr“ (ERV) zwischen der Justiz und Verfahrensbeteiligten, miteinander.
Nach Probeläufen steht fest, dass das System nun technisch funktioniert. Zu Jahresbeginn wurden darauf auch die Richterpulte und Tische des Landesgerichts (LG) mit riesigen Bildschirmen ausgestattet, über welche die Kommunikation in Gerichtsverfahren künftig abläuft. Im April kam es am LG dann zur ersten papierlosen Verhandlung. Nicht zufällig handelt es sich dabei inhaltlich um die monströse VW-Sammelklage, die als Großverfahren besonders von den Vorteilen einer Digitalisierung profitieren sollte.
LG-Vizepräsident Andreas Stutter dazu zur TT: „Das Gericht, aber auch jede Verfahrenspartei kann nun völlig orts- und zeitunabhängig auf den digitalen Akt zugreifen. Müssen beispielsweise umfangreichere Gutachten erstellt werden, muss auch für Verfahrensschritte nicht mehr auf die Retournierung des Akts gewartet werden. Zudem kann das System aus umfangreichsten Aktenbänden besonders relevante Teile separat abspeichern und verfügt über eine Volltextsuche über den gesamten Inhalt eines Akts.“
Allein die ständige Verfügbarkeit von Großakten für alle Beteiligten könnte zu einer spürbaren Beschleunigung größerer Verfahren führen. Für die Richterschaft heißt es in der Verhandlung nun aber „volle Konzentration“. So führt diese die Verhandlung künftig nicht mehr nur – wie bislang – nach der jeweiligen Prozessordnung, sondern bedient und steuert über ihr Pult nun auch die Bildschirme der Parteien und bestimmt, was Rechtsanwälte und Staatsanwälte sehen. Wird im Verfahren eine Urkunde in Papierform vorgelegt, sollte diese aber auch gleich vor Ort zum Akt eingescannt werden.
Laut dem LG-Vizepräsidenten stellen sich im Haus praktisch alle Richter bereits im Ausbildungsweg dieser Herausforderung: „Nur drei, vier Kollegen bleiben bis zur nahen Pensionierung noch beim Papierakt. Das Justizministerium plant indes in Zivilverfahren eine flächendeckende Einführung des digitalen Akts bereits bis Ende 2021. Ein ambitioniertes Ziel, bedenkt man, dass an den Bezirksgerichten noch gar nichts umgesetzt worden ist. 2025 sollte die „Justiz 3.0“ dann flächendeckend Realität sein, auch mit Akteneinsichtsmöglichkeiten für an Verfahren beteiligte Bürger.
Bei der Strafgerichtsbarkeit sollen Pilotprojekte zu Beginn des kommenden Jahres anlaufen. Über einen digitalen Akt verfügt die Staatsanwaltschaft übrigens schon seit Jahren.
Das Landesgericht selbst freut sich jetzt schon auf frei werdenden Stauraum. Nach 30 Jahren werden Akten nämlich vernichtet – und es kommen keine mehr nach. Auch das Post- und Kopierwesen ist wohl bald passé.
Dafür wird es laut Vizepräsident Stutter aber wohl IT-Experten benötigen, die der Justiz quasi rund um die Uhr zur Verfügung stehen: „Man stelle sich einen Systemabsturz mitten in der Verhandlung vor. Das muss dann sofort und professionell behoben werden können.“
Umwegkosten, die die Digitalisierung auch für die Gerichtsbarkeit mit sich bringt, auch wenn die kostenintensive IT-Ausstattung aller Gerichte wohl nicht allzu gut zu einem weiteren Justiz-Sparbudget passt.
Hintergrund
Dolmetscher beklagen immensen Mehraufwand: Das Verhältnis zwischen Justiz und Dolmetschern ist schon seit geraumer Zeit getrübt. Neben Dauerabrufbarkeit beklagen die Dolmetscher vor allem die immer schlechter werdende monetäre Situation. Dies gipfelt seitens des Österreichischen Verbandes der Gerichtsdolmetscher (ÖVGD) am 17. September sogar in einer Protestveranstaltung mitsamt Arbeitsniederlegung an diesem Tag.
Was hat dies alles mit Justiz 3.0 zu tun? Laut Dolmetscher fügt sich die Herangehensweise der Justiz auch im Bereich der Digitalisierung nahtlos in das übrige Bild.
Elisabeth Prantner-Hüttinger vom ÖVGD zur TT: „Für uns bedeutet die Digitalisierung nun einen noch höheren Arbeitsaufwand. Nicht nur, dass wir davon von der Justiz erst eine Woche davor verständigt wurden, war die Information auch ungenügend, und ist das System technisch noch nicht ausgereift.“ Demanch müssten Dokumente nun in verschiedenen Formaten gespeichert werden, wären Konvertierungsprogramme und Einstellungen in Programmen erforderlich. „Für ältere KollegInnen ist dies alles eine sehr große, teils unüberbrückbare Hürde“, heißt es seitens des ÖVGD. Zudem wurde der Verdienst der Dolmetscher erneut eingeschränkt: Statt 22,70 Euro für den Postweg gibt es jetzt nur mehr zwölf Euro Entschädigung für operativen Mehraufwand.
Der Innsbrucker Rechtsanwalt und Türkisch-Dolmetscher Vedat Gökdemir: „Wer die Technik beherrscht, hat doppelten Aufwand für weniger Lohn!“
Anwälte bereits mitten in der Digitalisierung:
Die Tiroler Rechtsanwälte können der Digitalisierung der Gerichte gelassen entgegensehen – treten sie mit der Justiz doch schon seit Jahren digital in Kontakt. Ob Elektronischer Rechtsverkehr (ERV), Grundbuch, Firmenbuch oder Exekutionsregister – all dies bewältigen die Advokaten schon digital.
Rechtsanwältepräsident Markus Heis blickt zurück und in die Zukunft: „Angefangen hat das alles mit dem Rechtsinformationssystem des Bundes (RIS). Als Beleg der aktuellen Gesetzeslage und vor allem zur Suche von Entscheidungen ist es heute unverzichtbarer Teil der Arbeit. Ich denke, dass es mit Justiz 3.0 genauso funktionieren wird.“
Aus Sicht des Unternehmers ist Digitalisierung wohl ohnehin zu begrüßen: „Die Umstellung auf elektronische Abfrage- oder Eingabemöglichkeiten hat unter dem Strich viele Vorteile gebracht. Ich denke da an eingesparte Zeit, Porto, Behördengänge“, so Präsident Heis.
Im Verhandlungssaal können papieraffine Anwälte übrigens weiter mit dem Handakt anstatt mit dem Laptop erscheinen. Alles, was es zum Verhandeln benötigt, projiziert der Richter auf den vor ihm stehenden Bildschirm. Der Rechtsanwältestand ist da ohnehin schon weiter und beschäftigt sich beispielsweise über Wiener Großkanzleien bereits mit Künstlicher Intelligenz. Dabei werden Suchtechnologien entwickelt, die Urteile, Rechtsprechung, Literatur oder Steuerrecht auf passende Ergebnisse hin aufbereiten. Versuche zur automatischen Analyse des Mandantenakts laufen auch schon. (fell)