George Enescus „Oedipe“: Die Mythe lebt - und bebt
Weltklasse: Regisseur Achim Freyer und Ingo Metzmacher am Pult der Wiener Philharmoniker sorgen mit George Enescus „Oedipe“ für eine Sternstunde bei den Salzburger Festspielen.
Von Jörn Florian Fuchs
Salzburg –Natürlich kann man als Intendant so etwas erhoffen, aber planen lässt es sich nicht. Die Rede ist von einer Sternstunde auf allen Ebenen, wie es sie letzten Sommer an der Salzach gab: Romeo Castellucci inszenierte Richard Straussens „Salome“ und brachte mythische Bilder zwischen Konkretion und Verrätselung in die Felsenreitschule, Franz Welser-Möst dirigierte die Wiener Philharmoniker auf Spitzenniveau, mit Asmik Grigorian in der Titelpartie wurde ein Weltstar geboren.
Solch ein singuläres Ereignis lässt sich nicht wiederholen, zumindest nicht gleich im folgenden Festspielsommer. Dachte man sich. Es kam anders. Salzburg, Felsenreitschule, Wiener Philharmoniker, wieder ein Bilder(ver)zauberer sowie ein Spitzendirigent – und schon haben wir die nächste Sensation. Dazu noch mit einem kaum bekannten Stück, vor dessen Finale sogar Kultregisseur Hans Neuenfels einst kapitulierte, nein, mit der ausufernden Erlösungsszene der Titelfigur könne er einfach nichts anfangen. Also strich er für seine Frankfurter Inszenierung von George Enescus „Oedipe“ den vierten Akt gleich ganz.
Nicht so Achim Freyer, der sich nun der ganzen Oper in Form eines Gesamtkunstwerks annahm. Das Stück wurde 1936 in Paris mit Riesenerfolg uraufgeführt, es ist Enescus einziges Musiktheater.
Düster geht es anfangs zu. Da liegt in der matt ausgeleuchteten Felsenreitschule ein Kind im Fatsuit auf dem Boden, es windet und räkelt sich zu George Enescus vorwärtsdrängenden Klangkaskaden. Bald sieht man, das Kind trägt Boxerkleidung, es kämpft sich buchstäblich ins Leben.
Wenig später steckt der phänomenale Sänger Christopher Maltman in einem deutlich größeren Gummianzug, der besteht nun allerdings aus Muskeln. Auch er wird sich in vier Akte lang durchschlagen, auch mal durchaus konkret, wenn schwarze Ballons herabschweben, die ihm als Sandsackersatz dienen. Er kämpft aber auch mit sich und dem Schicksal im Traum, dann liegt er auf der Erde und erlebt – durchlebt – etwa die Plagen Thebens, ein riesiges Insekt, eine lebendige Schere mit Tentakeln. Allerlei maskierte und verwachsene Subjekte und Objekte bevölkern die Felsenreitschule. In den Arkaden stehen diverse schräge Gestalten. Das zentrale Opernpersonal streift langsam über die Bühne, eindrucksvoll vor allem Brian Mulligan als König Créon sowie Anaïk Morel als Jocaste, Ödipus’ Mutter und Frau, sie sieht aus wie eine verrückt gewordene Blume. Mehrfach schleppt sich der blinde Seher Terésias (der wunderbare John Tomlinson) durch die Szenerie, geführt von einem Kind.
Freyer arbeitet, wie so oft, mit einer Vielzahl von Symbolen und Andeutungen, jedoch zügelt er seine überbordende Fantasie diesmal, da ist nichts zu viel, nichts lenkt ab vom eigentlichen Geschehen. Ödipus erschlägt seinen Vater, ehelicht seine Mutter, weiß von all dem nichts und als er es erfährt, blendet er sich. Rote Fäden hängen dann aus seinen Augen und über sein Gesicht, ein klassisches Bild aus dem asiatischen Theater. Genial gelingt die Begegnung mit der Sphinx, als atemberaubend intensives Machtspiel. Das Wesen ist einerseits Frau, anderseits Ding aus einer anderen Dimension, nachdem Ödipus es besiegt hat, bleibt ihm als Souvenir ein großer Schuh. Solche feinen ironischen Momente sind eher selten, meist nimmt Freyer Enescus zwischen klangsinnlicher Üppigkeit (die Besetzung hat Mahler’sche Dimensionen) und düsteren Gesten changierende Musik sehr ernst und koppelt seine brillante Bildwelt exakt an.
Dirigent Ingo Metzmacher koordiniert alles perfekt und macht auch das locker strukturierte Leitmotivgeflecht hörbar. Die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor (Einstudierung Huw Rhys James) sowie der Salzburger Festspiele und Theater Kinderchor (Leitung Wolfgang Götz) sind exzellent präpariert und auch wesentlicher szenischer Teil, mal als Thebaner, mal als Lemuren, mal als Kommentatoren.
Direkt vor der Felsenreitschule hat Achim Freyer eine über sechs Meter hohe Skulptur errichtet, die aus nicht verwendeten Materialien seiner Inszenierung besteht. Man sieht ein vom Schicksal arg gepeinigtes, völlig verwachsenes Wesen, das charmant den derzeit allerorten gepflegten Recyclinggedanken aufnimmt. Der Schluss der Inszenierung hingegen führt uns die Erlösung der Titelfigur vor, diese transzendiert durch Selbsterkenntnis, Läuterung und Gnade, mittels Licht und Musik und der Bühnenkunst des mittlerweile 85 Jahre alten Achim Freyer.