Kurden fordern Fluchtwege in Syrien, Einigung in Ferne

Die kurdische Verwaltung im Nordosten Syriens hat am Donnerstag angesichts der türkischen Offensive einen Sicherheitskorridor für Zivilisten gefordert, um tote und verletzte Zivilisten aus der Region bringen zu können. Hochrangige Vertreter der USA verhandelten indes in der Türkei über eine Waffenruhe, die Aussicht darauf schien aber gering.

Bereits vor Beginn der Gespräche zwischen einer von US-Vizepräsident Mike Pence geführten Delegation mit dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan hatte letzterer einen Stopp der Offensive abgelehnt, bevor die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) nicht ihre Kämpfer aus der geplanten „Sicherheitszone“ an der türkischen Grenze abgezogen haben. Auch schloss er aus, sich mit der „Terrororganisation“ an einen Tisch zu setzen.

Ebenso lehnte Erdogan zunächst ein Treffen mit den US-Regierungsvertretern ab, revidierte diese Aussage aber kurz darauf. Pence landete am frühen Nachmittag in Ankara. Kurz zuvor war bereits US-Außenminister Mike Pompeo in einem separaten Flugzeug eingetroffen. Der US-Delegation gehören auch der Nationale Sicherheitsberater Robert O‘Brien und der US-Sonderbeauftragte für die Anti-IS-Koalition, James Jeffrey, an. „Unsere Mission ist es, zu sehen, ob wir eine Waffenruhe erreichen können, ob wir verhandeln können“, sagte Pompeo vor dem Abflug.

Die syrischen Kurden forderten unterdessen ein Eingreifen Russlands oder der USA im Norden des Landes. Die Staatengemeinschaft müsse einschreiten, um „einen gesicherten, humanitären Korridor zu öffnen, um die Märtyrer und verletzten Zivilisten aus der eingekreisten Stadt Ras al-Ain zu bringen“. Es seien „zahlreiche Zivilisten“ eingeschlossen und Krankenwägen würden „systematisch bombardiert“, teilte die Verwaltung der kurdischen Autonomieregion mit.

Der italienische Premier Giuseppe Conte forderte in einem Telefonat mit Erdogan ein sofortiges Ende des Militäreinsatzes und bezeichnete diesen als „unannehmbar“. Auch Russland zeigte sich angesichts der humanitären Folgen der Offensive beunruhigt. Das Außenministerium in Moskau sprach von einer „ernsthaften Eskalation der Spannungen“. Darüber wollten der russische Präsident Wladimir Putin und sein türkischer Kollege Recep Tayyip Erdogan am kommenden Dienstag in der Schwarzmeer-Stadt Sotschi reden, so der Sprecher des Ministeriums.

Die ersten Folgen des US-Abzugs und der türkischen Offensive sind bereits sichtbar. Am Donnerstag vermeldete die Jihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) die „Befreiung“ mehrerer Frauen aus kurdischer Haft in Syrien. Die Extremistengruppe erklärte am Donnerstag via Telegram, ihre Kämpfer hätten ein Hauptquartier der kurdischen Sicherheitskräfte westlich von Raqqa gestürmt und von den Kurden „entführte muslimische Frauen befreit“. Ob es Frauen von Kämpfern oder IS-Mitglieder waren, blieb offen. Auch Österreicher befinden sich in den Lagern in Nordsyrien.

Die Türkei geht seit einer Woche gegen die von der YPG kontrollierte Autonomieregion im Nordosten Syriens vor, nachdem die USA den Abzug ihrer Truppen aus der Region verkündet hatte. Zuvor unterstützten die USA die kurdische Miliz, die ihr wiederum half, die Terrormiliz IS zu bekämpfen. Die Türkei sieht die YPG allerdings als Terrororganisation.

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Kurdische Verbände hatten zur Abwehr des türkischen Vormarsches ein Bündnis mit Assad geschlossen, der lange als Gegner der Kurden galt. In den USA hatte die Entscheidung von Präsident Donald Trump zum Truppenabzug auch unter seinen republikanischen Parteifreunden heftige Kritik ausgelöst. Das Repräsentantenhaus verurteilte Trumps Vorgehen am Mittwoch mit großer Mehrheit von 354 zu 60 Stimmen, wobei Dutzende Republikaner mit den Demokraten stimmten.

Für Verwunderung sorgte vor dem Besuch von Pence in Ankara ein Brief von Trump an Erdogan. „Lassen Sie uns einen guten Deal ausarbeiten“, beginnt der mit 9. Oktober datierte Brief, den Trump veröffentlichen ließ. „Sie wollen nicht für das Abschlachten Tausender Menschen verantwortlich sein und ich will nicht verantwortlich sein für die Zerstörung der türkischen Wirtschaft - aber ich werde es tun!“, mahnte Trump.

Verteidigungsminister Thomas Starlinger drängte am Donnerstag auf einen Masterplan für die Zeit nach dem Syrien-Krieg. Dabei „wird auch die Europäische Union eine Rolle“ spielen, sagte der Minister am Donnerstag mit Blick auf Wiederaufbauarbeiten und der Rückkehr von syrischen Flüchtlingen in ihr Heimatland. Zuerst müssten allerdings ein „halbwegs“ friedlicher Zustand hergestellt und Kampfhandlungen eingestellt werden. Mit einer „signifikanten Veränderung“ rechnet Starlinger erst „in fünf bis zehn Jahren“.

Der ORF und mehrere Hilfsorganisationen starteten einen weiteren Spendenaufruf für die Aktion „Nachbar in Not“-Flüchtlingshilfe. Mehr als die Hälfte der syrischen Bevölkerung ist auf humanitäre Hilfe angewiesen, über sechs Millionen Menschen mussten ihr Zuhause verlassen und sind Flüchtlinge im eigenen Land. 4,8 Millionen Menschen sind in die Nachbarländer geflohen. Diese Zahlen könnten durch die türkische Militäroffensive in Nordsyrien rasant steigen, schon jetzt sind seit deren Beginn mehr als 300.000 Menschen aus der Grenzregion geflüchtet.