Kämpfe in Nordsyrien trotz vereinbarter Waffenruhe
Trotz einer vereinbarten Feuerpause schweigen im Norden Syriens nach Angaben von Kurden und Beobachtern nicht überall die Waffen. Rund um die Grenzstadt Ras al-Ain kam es am Freitag zu Gefechten und Luft- und Artillerieangriffen, wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Freitag berichtete. Dabei seien mindestens sieben Zivilisten und vier syrische Kämpfer getötet worden, hieß es.
Mindestens 21 weitere Personen wurden laut Angaben der in Großbritannien angesiedelten Beobachtungsstelle verletzt. Der Sprecher der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), Mustafa Bali, warf der Türkei vor, gegen die Abmachung zu verstoßen. „Die Türkei verletzt die Waffenruhe mit ihren anhaltenden Angriffen auf die Stadt seit letzter Nacht“, schrieb Bali auf Twitter. Neben Stellungen der Kämpfer seien auch zivile Einrichtungen und ein Krankenhaus in der Stadt Ras al-Ain angegriffen worden. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wies Berichte über Kämpfe als „Spekulation und Desinformation“ zurück.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International warf der Türkei Kriegsverbrechen in Nordsyrien vor. Die türkischen Streitkräfte und ihre syrischen Verbündeten hätten bei ihrer Militäroffensive gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) „Kriegsverbrechen, Massentötungen und unrechtmäßige Angriffe“ verübt, teilte Amnesty am Freitag mit.
Die Organisation erklärte, über „erdrückende Beweise für willkürliche Angriffe in Wohngebieten“ zu verfügen. Amnesty-Generalsekretär Kumi Naidoo bescheinigte der türkischen Armee und ihren syrischen Verbündeten eine „vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben von Zivilisten“. Dem Amnesty-Bericht zufolge griffen die von Ankara kontrollierten Streitkräfte unter anderem ein Wohnhaus, eine Bäckerei und eine Schule an.
Die Hilfsorganisation SOS-Kinderdorf appellierte am Donnerstag an die Konfliktparteien die Gewalt umgehend zu beenden. „300.000 Menschen befinden sich in Folge der Kämpfe auf der Flucht, darunter mindestens 70.000 Kinder. Sie werden beschossen, sind sexueller Gewalt, Hunger, Durst und Krankheiten schutzlos ausgeliefert“, so Elhadi Abdalla, Leiter von SOS-Kinderdorf im Nahen Osten, in einer Aussendung.
Die USA und die Türkei hatten sich am Donnerstag auf Schritte geeinigt, die zu einer Beruhigung der Lage in der zuletzt umkämpften Region in den kommenden fünf Tagen sorgen soll. Washington und Ankara interpretierten den Pakt aber unterschiedlich: Während die USA von einer „Waffenruhe“ sprachen, lehnte die Türkei diesen Begriff ab und erklärte, es gehe um eine „Pause“ ihrer Offensive von fünf Tagen, um „Terroristen“ in der Region den Abzug zu ermöglichen. Auch war unklar, ob die von der Kurden-Miliz YPG angeführten Kämpfer der SDF die Vereinbarung akzeptieren.
Am Donnerstag hatte US-Vizepräsident Mike Pence nach einem Treffen mit dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Ankara erklärt, binnen 120 Stunden solle sich die kurdische Miliz YPG aus der Region zurückziehen. Sobald sie sich vollständig aus der in Nordsyrien geplanten Sicherheitszone zurückgezogen hätten, werde das türkische Militär seinen Einsatz komplett einstellen. Es seien US-Soldaten im Einsatz, um einen friedlichen Abzug der YPG-Miliz zu organisieren.
Die Türkei erwartet nach Angaben von Präsident Recep Tayyip Erdogan den Rückzug der kurdischen Kämpfer entlang der kompletten syrisch-türkischen Grenze. Erdogan sprach von einem 32 Kilometer breiten und 444 Kilometer langen Gebiet. Das entspricht der sogenannten Sicherheitszone, die die Türkei sich seit langem wünscht und die sie mit ihrer Offensive gegen Kurdenmilizen hatte erreichen wollen. Aus türkischer Sicht beginnt sie am Euphrat-Fluss und erstreckt sich gen Osten bis an die irakische Grenze. Erdogan sagte: „Bei den gestrigen Gesprächen haben wir uns darauf geeinigt, dass innerhalb dieser 120 Stunden (fünf Tage) diese Region evakuiert werden soll.“
Damit könnte das am Vorabend zwischen Erdogan und einer hochrangigen US-Delegation ausgearbeitete Abkommen zur Deeskalierung des Konflikts zwischen der Türkei und der Kurdenmiliz YPG einen fundamentalen Webfehler enthalten. Denn aus Sicht der Kurdenkämpfer gilt die Vereinbarung nur für das Gebiet zwischen den syrischen Städten Ras al-Ain und Tall Abyad. Das wäre nur ein Teil der sogenannten Sicherheitszone, die der Türkei vorschwebt.
Angesichts der türkischen Militäroffensive in Syrien planen Frankreich, Deutschland und Großbritannien nach Angaben von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron eine gemeinsame diplomatische Initiative. Macron sagte am Freitag zum Abschluss des EU-Gipfels in Brüssel, er wolle den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan in Kürze gemeinsam mit Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem britischen Premierminister Boris Johnson treffen.
Das Treffen könne „in den kommenden Wochen“ stattfinden, sagte Macron weiter. Als Ort nannte er London. Dort findet Anfang Dezember der NATO-Gipfel statt. Die Türkei ist Mitglied der Militärallianz.
EU-Ratspräsident Donald Tusk kritisierte die von der Türkei und den USA angekündigte Feuerpause: „Es ist kein Waffenstillstand, sondern eine Aufforderung an die Kurden, zu kapitulieren“, betonte er. „Wir fordern die Türkei erneut auf, ihre Militäraktion endgültig zu stoppen.“
Die Türkei hatte den Feldzug gegen die Kurdenmiliz YPG zusammen mit verbündeten arabisch-syrischen Milizen am 9. Oktober begonnen. Die Türkei sieht in der YPG eine Terrororganisation. Für die USA waren die Kämpfer allerdings lange enge Verbündete im Kampf gegen die Terrormiliz IS. Die am Donnerstag vereinbarte Feuerpause soll den syrischen Kurdenmilizen Gelegenheit geben, sich zurückzuziehen. Der Türkei wurde die Kontrolle über die „Zone“ zugesichert.
In dem Abkommen, das auf eine DIN-A-4-Seite passt, war aber nicht eindeutig spezifiziert worden, aus welcher Gegend die Kurdenmilizen sich zurückziehen sollen.
Kritiker von Trumps Abzugsentscheidung fürchten auch, dass IS-Kämpfer, die bisher auf dem Gebiet in Nordsyrien gefangen gehalten wurden, freikommen und neue Anschläge planen könnten. Trump hatte angesichts der Kritik erklärt, er werde die türkische Wirtschaft „vollständig zerstören“, sollte die Türkei etwas tun, was er als falsch bewerte. Erdogan hatte zuletzt allerdings gesagt, US-Sanktionen sorgten ihn nicht. Auch nach dem Pakt vom Donnerstag erklärte die türkische Seite, keinerlei Zugeständnisse gemacht zu haben. „Wir haben genau das bekommen, was wir wollten“, sagte ein Regierungsvertreter. Trump hingegen twitterte: „Dies ist ein großer Tag für die Zivilisation.“ Millionen Menschenleben würden gerettet.