Viennale-Finale: Im Sternenhimmel des Kinos
Mit dem Film „Martin Eden“ geht heute die Viennale zu Ende, die ein überbordend-eingeebnetes Programm präsentierte.
Von Marian Wilhelm
Wien –Die Viennale geht heute Abend zu Ende, nach zwei Wochen und über 300 Filmen. Der Abschlussfilm „Martin Eden“ und sein Titelheld sind ein Spiegelbild des größten österreichischen Festivals: ebenso reichhaltig wie maßlos, ebenso überintellektuell wie überbordend voll, ebenso zeitlos wie lebendig.
In „Martin Eden“ steckt fast die gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts und somit auch die des Kinos, das mit verschiedensten Archiv-Aufnahmen integriert wird. Dabei ist der italienische Film von Pietro Marcello, der zur Premiere nach Wien kommt, eine Adaption eines genau 100 Jahre alten Jack-London-Bildungsromans.
Was gerade im Kontext des Romans brennend bleibt, ist das Thema Klasse und Bildung: Marcello macht Martin zum neapolitanischen Arbeiterjungen. Die Verwandlung eines ungebildeten Matrosen zum Star-Schriftsteller (entsprechend Jack Londons eigener Biografie) kleidet er in nostalgische 16-mm-Bilder zwischen warmem Neorealismus und lichtdurchfluteter Opulenz. Die politischen Zwischentöne wirken zuweilen eher bemüht: „Bildung ist wie das Brot, mit dem man die Armut aufwischen kann wie die Pasta-Sauce.“ Doch der angenehme Rhythmus fesselt über 129 Minuten, mit Hilfe des grandiosen Hauptdarstellers Luca Marinelli, der dafür beim Filmfestival Venedig den Darsteller-Preis gewann. Ein starker Festival-Schlussakkord! „Martin Eden“ kommt 2020 ins Kino.
Neben markantem Auftakt und Abschlussfilmen sind die Highlights des Viennale-Programms schlicht die Highlights des Filmjahres der großen internationalen Wettbewerbs-Festivals. Darunter ist etwa die kolumbianische Sundance-Sensation „Monos“, die diese Woche bereits österreichweit in die Kinos kommt. Ungeachtet der schwelenden Kontroverse waren bei der diesjährigen Viennale auch zwei Netflix-Filme zu sehen: Mati Diops „Atlantique“ (ohne Kino-Start bereits Ende November online!), einer der Gewinnerfilme von Cannes, und Noah Baumbachs „Marriage Story“ vom Filmfestival Venedig (mit nur zwei Wochen Kino-Vorsprung ebenfalls noch im November zu sehen). Die Berlinale war unter anderem mit dem verrückten Bären-Gewinner „Synonymes“ aus Israel (Filmstart im Dezember) und dem starken chinesischen Familien-Epos „So Long, My Son“ (Jänner 2020) vertreten.
Für die Entdeckung durchaus vorhandener kleinerer Perlen ist die Hauptauswahl von Direktorin Eva Sangiorgi zu kompromisslos eingeebnet, ohne unbekanntere Filme herausragen zu lassen. Lediglich die vielen teils kinogeschichtlichen Tributes der Nebensektionen erzeugen Aufmerksamkeit für einige ausgewählte Gäste, wie die 94-jährige Theater-Legende Peter Brook. Daneben gaben großteils altbekannte cinephile Namen arrivierter männlicher Meister Orientierung, wie Luc Dardenne, Bertrand Bonello, Lav Diaz oder Sergei Loznitsa, die alle ohne viel Aufhebens für kurze Filmgespräche nach Wien kamen. Mit Abel Ferrara beehrte auch ein immer noch recht bekannter alter Freund Hans Hurchs wieder das Festival.
Eine der Regie-Größen des Weltkinos verabschiedete sich hingegen von der Leinwand aus: Agnès Varda starb zwischen der Weltpremiere bei der Berlinale im Februar und der Viennale-Premiere ihres Films „Varda par Agnès“. Im Sternenhimmel des Kinos werden am Ende alle zu Stars.