VfGH kippt Kernpunkte des türkis-blauen Sozialhilfe-Gesetzes
Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat ein weiteres Prestigeprojekt der türkis-blauen Regierung gekippt: Die den Bundesländern vorgeschriebene Reform der Mindestsicherung („Sozialhilfe neu“) war laut einer Erkenntnis des VfGH in den Kernpunkten verfassungswidrig. Aufgehoben wurden beide gegen Zuwanderer gemünzte Maßnahmen: Die Verknüpfung mit Sprachkenntnissen und die Höchstsätze für Kinder.
Die im Grundsatzgesetz verankerte Mindestsicherungs-Reform, mit der ÖVP und FPÖ die Sozialleistung für Zuwanderer weniger attraktiv machen wollten, hätte u.a. bundesweit einheitliche Höchstbeträge bringen sollen. Sie ist laut den Verfassungshütern aber auch in einem weiteren Punkt verfassungswidrig, wie der VfGH am Dienstag bekannt gab: So verstoße die im entsprechenden Sozialhilfe-Statistikgesetz verankerte Verpflichtung zur Übermittlung personenbezogener Daten gegen das Grundrecht auf Datenschutz. Damit kippte der VfGH nach dem Überwachungspaket, das in wesentlichen Teilen aufgehoben wurde, bereits das zweite Prestige-Projekt von Türkis-Blau in seinen Kernpunkten.
Im Zentrum der Kritik stehen die Regelungen zu den Kinder-Höchstsätzen und den Sprachkenntnissen: Bei den Höchstsätzen für Kinder sieht der VfGH eine „sachlich nicht gerechtfertigte und daher verfassungswidrige Schlechterstellung von Mehrkindfamilien“. Das Grundsatzgesetz sieht vor, dass der Höchstsatz der Sozialhilfeleistung für das erste Kind 25 Prozent, für das zweite Kind 15 Prozent und für das dritte und jedes weitere Kind 5 Prozent des Ausgleichszulagenrichtsatzes betragen soll.
Diese Regelung könne dazu führen, „dass der notwendige Lebensunterhalt bei Mehrkindfamilien nicht mehr gewährleistet ist“, heißt es im VfGH-Entscheid, der mit 12. Dezember datiert ist. Gegen die Höchstsätze für Erwachsene, die sich am System der Ausgleichszulage orientieren, haben die Verfassungshüter hingegen keine Bedenken.
Bei den Regelungen zu den Sprachkenntnissen sieht VfGH „schon deshalb eine unsachliche Regelung“, weil „keine Gründe ersichtlich sind, weshalb ausschließlich bei Deutsch- und Englischkenntnissen auf diesem hohen Niveau eine Vermittelbarkeit am Arbeitsmarkt anzunehmen sein soll“. Das Grundsatzgesetz schreibt vor, dass nur diejenigen Betroffenen die Sozialhilfe zu Gänze ausschöpfen können, die Deutschkenntnisse auf Niveau B1 oder Englischkenntnisse auf Niveau C1 erreichen. Alle anderen können nur 65 Prozent der regulären Leistung beziehen. Die Differenz von mehr als 300 Euro auf die volle Geldleistung wurde im Gesetz als Sachleistung zum „Arbeitsqualifizierungsbonus für Vermittelbarkeit“ gerechtfertigt. Mit diesem Betrag sollten Sprachkurse finanziert werden.
Es sei „offenkundig“, dass für viele Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt „weder Deutsch auf B1-Niveau noch Englisch auf C1-Niveau erforderlich sind“, erklärte dazu der VfGH. Auch lasse der Grundsatzgesetzgeber außer Acht, „dass Personen aus mannigfaltigen Gründen (Lern- und Leseschwächen, Erkrankungen, Analphabetismus uvm.) nicht in der Lage sein können, ein derart hohes Sprachniveau zu erreichen, aber dennoch am Arbeitsmarkt vermittelbar sein können“.
Diese Regelung verstoße deshalb gegen den Gleichheitsgrundsatz, da es viele Beschäftigungsmöglichkeiten gebe, „für die weder Deutsch- noch Englischkenntnisse auf diesem Niveau erforderlich sind“. Verletzt sah der VfGH aber auch das in Verfassungsrang stehende internationale Übereinkommen über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung. Im Grundsatzgesetz selbst sieht der VfGH keinen unzulässigen Eingriff in die Zuständigkeit der Länder.
Auf jene beiden Länder, die das Grundsatzgesetz bereits umgesetzt haben (Niederösterreich und Oberösterreich) hat das Erkenntnis keine unmittelbare Auswirkung. Zwar könnten die Ausführungsgesetze auch verfassungswidrig sein, hieß es zur APA. Solange diese aber durch den VfGH nicht aufgehoben werden, sind sie aber anzuwenden. Für eine allfällige Aufhebung bedarf es jedoch einer neuerlichen Anrufung des VfGH in dieser Frage. Denn von sich aus tätig werden die Verfassungshüter grundsätzlich nicht.
Für Jubel sorgte der Entscheid bei den Kritikern der Reform: SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner sprach davon, dass diese „Schande für Österreich“ aufgehoben wurde. Korinna Schumann, Vorsitzende der SPÖ-Bundesratsfraktion, die die Causa vor den VfGH gebracht hatte, ortete einen „Erfolg für die Menschlichkeit“.
Auch die Grünen gaben sich zufrieden: Deren stellvertretender Bundessprecher Stefan Kaineder sprach von einem „guten Tag für die ärmsten Kinder in Österreich“. „Wir werden das Erkenntnis im Detail prüfen und uns mit Expertinnen und Experten beraten, wie nun der Handlungsauftrag für die Politik aussieht.“ NEOS-Sozialsprecher Gerald Loacker sah sich in seiner Skepsis bestätigt und plädierte für eine „durchdachte“ Reform mit mehr Treffsicherheit.
Die einstigen Koalitionspartner, die das Gesetz auf den Weg gebracht haben, zeigten sich weniger erfreut. Der geschäftsführende ÖVP-Klubobmann August Wöginger konnte die Entscheidung „absolut nicht nachvollziehen“: „Sie widerspricht vollkommen unseren politischen Überzeugungen.“ Scharfe Kritik äußerte FPÖ-Klubchef Herbert Kickl: „Die Höchstrichter stellen mit dieser Entscheidung den Magnet für unqualifizierte Zuwanderung wieder auf Maximalleistung“, sagte er.