„Die Physiker“ am Tiroler Landestheater: Diese Bombe zündet nicht
Wenn alle Dringlichkeit verpufft: Elisabeth Gabriels Inszenierung von „Die Physiker“ am Tiroler Landestheater fehlt der Mut, mit Friedrich Dürrenmatt zum Äußersten zu gehen.
Von Joachim Leitner
Innsbruck –Mit „Die Physiker“ brachte Friedrich Dürrenmatt 1962 seinen – nach „Der Besuch der alten Dame“ (1955) – zweiten Welterfolg auf die Bühne: eine dunkle, vielleicht sogar die denkbar dunkelste Komödie über nicht weniger als das (menschengemachte) Ende der Welt – und über die Unmöglichkeit, einmal Angedachtes rückgängig zu machen. Als moderner, ja beinahe unverwüstlicher Klassiker zählen die schnell auch zur Schullektüre gewordenen „Physiker“ bis heute zu den viel gespielten Stücken der Quasi-Gegenwartsdramatik. Wohl auch, weil Dürrenmatt nebst zeitloser Thematik – Wissenschaft zwischen Instrumentalisierung und Verantwortung, weil alles Erforschte Waffe werden kann – eine formal schnörkellose Komposition anbietet: ein Schauplatz, zwei Akte, die sich in Echtzeit entfalten und konsequent auf die oft bemühte Lektion zusteuern, dass eine Geschichte erst dann zu Ende gedacht ist, „wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat“.
Am Tiroler Landestheater stand „Die Physiker“ bislang einmal auf dem Spielplan: vor 36 Jahren, in der Saison 1983/84. Der Griff ins Regal scheint also allein deshalb hinreichend motiviert. Zumal eine zweite Dürrenmatt’sche Lektion aktueller scheint denn je: „Der Welt ist nur noch mit der Komödie beizukommen.“ So gesehen sind (und waren) „Die Physiker“ programmatisch immer eine gute Wahl.
Die Neuinszenierung des Stoffes im Großen Haus ging allerdings trotzdem in die Hose. Manches mag sich nach der Premiere am Samstagabend noch einschleifen, das Timing im ersten Teil zum Beispiel, in dem sich die große Groteske noch als Kriminalklamotte tarnt. Da wird schon mal zu früh reagiert – oder wundersamerweise gar nicht. Doch wie gesagt: Das dürfte sich geben.
Schwerer ins Gewicht fallen hingegen inszenatorische Entscheidungen, die rätselhaft bleiben. Regisseurin Elisabeth Gabriel lässt das Stück da spielen, wo schon Dürrenmatt es verortete: Bühne und Dekor (Vinzenz Hegemann) beschwören den etwas derangierten Chic der Fünfzigerjahre. Eine mächtige Glasfassade mit Blick ins Grüne erlaubt eine Ahnung von abgewetztem Modernismus. So weit, so erwartbar, aber schlüssig. Doch im zweiten Teil springt das Stück in ein futuristisches Irgendwann: Jetzt werden die Irrenhaus-Insassen von Roboter-Ringern (Philip Rudig beweist ganz besondere Stimmbeherrschung) betreut – bis das Sanatorium selbst vollends zum virtuellen Raum wird: Zunächst bestrahlt der Mond die um die Zukunft der Welt ringenden Physiker, dann purzeln – „The Matrix“ lässt grüßen – giftgrüne Lettern vom Himmel – und die Irrenärztin (Antje Weiser) darf zur irren Ärztin werden: „Big Sister is watching you“. Schon klar: Durch die Öffnung des Raumes soll unterstrichen werden, dass es jetzt ums große Ganze geht und die jüngsten Gefahren im Digitalen lauern. Bloß: Die Dringlichkeit des Themas verpufft, wenn man es in ein Setting schiebt, das einem Sciencefiction-Heftchen von anno dazumal entlehnt sein könnte. Plötzlich ist die Geschichte weit weg, in einem „Safe-Space“ – und dementsprechend harmlos. So wie die atomare „Höllenbombe“, deren Zerstörungskraft „Die Physiker“ einst inspirierte, hier als Videomätzchen herhalten muss.
Schon davor fehlte bisweilen der Mut, mit Dürrenmatt zum Äußersten zu gehen. Immer dann, wenn es tatsächlich grotesk, also ernst werden könnte, bleibt alles seltsam brav. Wenn Möbius (Stefan Riedl), der sich einst ins Irrenhaus flüchtete, um vermeintlich folgenlos forschen zu können, wie davor schon seine Mitinsassen Newton, also Beutler (Raphael Kübler), und Einstein, also Ernesti (Phillip Henry Brehl), eine Krankenschwester (Christina Constanze Polzer) tötet, wenn sich also vorgeblicher Wahn in einer echten Wahnsinnstat entlädt, geht das mirnichtsdirnichts-schnell – und bleibt daher bedeutungslos. Abhaken, weitermachen. Dabei hatte die Szene als intimer Engtanz eigentlich schön begonnen. Überhaupt bleibt viel im schönen Ansatz stecken: Johannes Gabls fahriger Kriminalinspektor etwa verliert mit seinem Interesse am Mordfall, der keiner sein darf, auch seine zunächst etablierten Marotten. Ganz so, als würde selbst für diese unbezahlbaren Kleinigkeiten, die Figuren zu Charakteren ausgestalten, die Zeit fehlen.