Gesundheitswesen: „Der Hausverstand geht auf allen Ebenen verloren“
Allgemeinmediziner Günther Loewit kritisiert in seinem Buch die Entwicklungen im österreichischen Gesundheitssystem.
Von Nikolaus Paumgartten
Marchegg, Innsbruck –Günther Loewit weiß viele Geschichten zu erzählen. Zum Beispiel jene vom ortsbekannten Säufer, der mit einer Rissquetschwunde an der Stirn per Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen wird, obwohl die Behandlung und das Nähen in der Ordination eines Hausarztes gerade einmal 100 Euro gekostet hätte. So werden je nach Flugstrecke zwischen 3000 und 4000 Euro fällig, die durch die Unfallversicherungsanstalt letztlich vom Steuerzahler getragen werden – die Behandlung im Krankenhaus noch nicht eingerechnet.
Eine andere Geschichte erzählt von einem Pflegeheim, das durch einen Gang mit einem Krankenhaus verbunden ist. Und trotzdem werden Bewohner nach Stürzen nicht über diesen Verbindungsweg in die Ambulanz gebracht, sondern fahren mit dem Rettungsauto einmal ums Haus, bevor sie eingeliefert werden. Der Grund: Die Krankenkasse kommt für Rettungseinsätze nur auf, wenn Patienten einen Ortswechsel im Krankenwagen vornehmen. Loewit: „Die zusätzlichen Strapazen für die Patienten sind dabei kein Thema.“
Günther Loewit ist seit 34 Jahren Landarzt in Marchegg, einem 3000-Einwohner-Städtchen in Niederösterreich. Der gebürtige Innsbrucker ist im Laufe seiner Berufsjahre und zuletzt immer öfter auf bürokratische Unsinnigkeiten im österreichischen Gesundheitssystem gestoßen. Doch nicht nur dort, auch bei den Patienten selbst beobachtet Loewit bedenkliche Entwicklungen – „Doktor Google“ sei Dank. So kommt er in seinem neuen Buch zum Schluss: „Der Hausverstand geht auf allen Ebenen verloren.“ In einem System, das Patienten durchschnittlich 17 Sekunden Zeit gibt, um ihr gesundheitliches Problem zu erklären, würden Landärzte, die traditionell den Menschen zugewandt sind, nicht nur bessere, sondern auch billigere Heilungs-Chancen als die industrielle Bearbeitung von gesundheitlichen Problemen bieten, ist Loewit überzeugt. Sieben Milliarden Euro ließen sich laut seinen Schätzung durch eine Rückkehr zum Hausverstand jährlich im Gesundheitssystem einsparen. Auch die durch Selbstdiagnosen via Internet entstehende Verunsicherung bei Patienten ließe sich dadurch nehmen, indem man in der Praxis auf den Menschen eingeht und ihm die Dinge erklärt.
Loewit fordert deshalb die neue Bundesregierung auf, einen Punkt ihres Regierungsprogrammes jedenfalls umzusetzen: Hausärzte sollen aufgewertet werden, heißt es darin. Doch das sei nicht genug: „Hausärzte müssen auch eine bessere Ausbildung bekommen und den Fachärzten gleichgestellt werden.“ Schließlich seien sie Garanten für die Rückkehr von Vernunft und Menschlichkeit ins Gesundheitswesen. „Ein Hausarzt kennt seine Patienten noch persönlich. Er kennt ihre Gewohnheiten und sie vertrauen ihm. Deshalb kann er oft punktgenaue Diagnosen ohne strapaziöse und kostspielige Untersuchungen stellen.“
Auch was die Bezahlung der Leistung von Hausärzten betrifft, sieht der 61-Jährige Handlungsbedarf. „Wenn ein junger Arzt heute das verdienen würde, was ich zu meinen Anfängen bekommen habe, dann hätten wir 100 Bewerber auf eine offene Hausarztstelle“, ist er überzeugt.
Derzeit sieht Loewit allerdings die Landärzte durch das moderne Gesundheitssystem verdrängt: „Die diversen Institutionen des Gesundheitssystems machen mehr Geld, wenn Rettungsstellen Patienten ohne Intervention eines Landarztes direkt ins Krankenhaus bringen“, sagt Loewit. „Doch das verbessert die Behandlungserfolge nicht, sondern steigert nur die Kosten für die Steuerzahler.“