Weltpolitik

TT-Interview: Das Warten auf den Berliner-Mauer-Moment in Tibet

Bagger im tibetischen Kloster Larung Gar. Mit Zehntausenden Mönchen und Nonnen gilt die Anlage als eines der größten religiösen Institute der Welt. 2017 begann die Staatsmacht mit einer teilweisen Demolierung, offiziell aus Brandschutzgründen.
© AFP

Der nächste Dalai Lama wird außerhalb von China geboren, sagt Lobsang Sangay, Ministerpräsident der tibetischen Exilregierung, im TT-Interview.

Der Dalai Lama hat China einmal einen „kulturellen Genozid“ vorgeworfen. Wie ist die Situation heute?

Lobsang Sangay: Der kulturelle Genozid geht weiter. Als die chinesische Armee nach Tibet kam, hat sie 98 Prozent der Klöster zerstört. Seitdem verfolgt China eine Politik der kulturellen Assimilation. Vor drei Jahren haben sie begonnen, das größte tibetische Kloster in Larung Gar zu zerstören. Die Chinesen wollen den Buddhismus und die tibetische Zivilisation zerstören.

Was bedeutet die Machtübernahme von Xi Jinping für Tibet?

Sangay: Es ist noch schlimmer geworden. Im Freiheits-Index der Organisation Freedom House ist Tibet seit vier Jahren an vorletzter Stelle, nur noch vor Syrien. Jeder weiß über Syrien Bescheid, aber wie viele Menschen wissen, wie wenig frei Tibet ist? Das hängt zum Teil damit zusammen, dass es für Journalisten schwieriger ist, nach Tibet zu reisen, als nach Nordkorea. 154 Tibeter haben sich selbst verbrannt. Das ist ein Zeichen der Verzweiflung.

Zuletzt haben die Uiguren und Hongkong Schlagzeilen gemacht. Besorgt es Sie, dass Tibet weniger Aufmerksamkeit bekommt?

Sangay: Wir betrachten das nicht auf diese Weise. Uns wurde immer gesagt, Tibet sei eine Ausnahme. Nun aber, da in der Provinz Xinjiang bis zu einer Million Menschen (Uiguren, Anm.) in Konzentrationslagern festgehalten werden, sagen die Leute: Was ist hier los?

Die Ärzte und Krankenschwestern in Wuhan, die ihre Meinung zum Coronavirus geäußert haben, wurden festgenommen, und die Epidemie breitete sich aus. Ermöglicht wurde das durch ein ­System, in dem die freie Meinungs­äußerung verwehrt wird und in dem es einen Mangel an Transparenz gibt.

Wir weisen seit 60 Jahren auf die systematische Repression durch die chinesische Regierung hin. Die Situation der Tibeter ist nur ein Symptom. Die Welt steht vor der Frage, ob sie etwas dagegen tut.

China ist eine aufstrebende Supermacht. Könnten andere Nationen davor zurückschrecken, sich China entgegenzustellen?

Sangay: Früher haben sich viele Regierungen selbst zensiert. Aber in den vergangenen Jahren hat es eine Veränderung gegeben. Die Welt betrachtet China mit anderen Augen. Sogar die EU bezeichnet China in einem Bericht als systemischen Rivalen. Die USA betrachten mittlerweile China als größte Bedrohung. Wir sind nicht dagegen, dass man Geschäfte mit China macht. Aber verliert dabei nicht eure Werte und Prinzipien, verkauft nicht eure Seele!

Lobsang Sangay.
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Sie streben eine Autonomie für Tibet an. Was unternehmen Sie?

Sangay: Unser Ansatz wird Mittelweg genannt. China besteht auf der Ein-China-Politik, wonach die Souveränität und territoriale Integrität nicht in Frage gestellt werden dürfen. Es gibt keine Chance für eine Abspaltung. Also fordern wir, dass die Repression und die kulturelle Assimilation gegen die Tibeter enden. Wir streben eine echte Autonomie an – innerhalb des Rahmens der chinesischen Verfassung.

Wir vertreten dabei einen gewaltlosen Ansatz. Abgesandte des Dalai Lama stehen bereit, mit ihren chinesischen Gegenübern zu sprechen.

Sollen ausländische Delegationen in China Tibet ansprechen?

Sangay: Wir wollen, dass der Präsident oder der Bundeskanzler ihren Gegenübern sagen, dass das Thema Tibet im chinesischen Interesse liegt. Wenn es so weitergeht, dann ist das nicht gut für das Image. Wenn die Chinesen eine Supermacht sein wollen, müssen sie internationale Normen respektieren. Wenn sie das nicht tun, werden sie zwar Macht haben, aber keinen Respekt genießen.

Sie beanspruchen, Tibet zu vertreten. Aber die meisten Tibeter können sich nicht aussuchen, wer sie anführt.

Sangay: Wenn die chinesische Regierung mir die Legitimität abspricht, kann sie in Tibet Wahlen abhalten. Ich versichere Ihnen, dass ich gegen einen Kandidaten der Regierung gewinnen würde. Das bedeutet nicht, dass die Leute für mich als Person stimmen würden, sondern weil ich Tibeter bin. Es gibt Lieder in Tibet, in denen mein Name vorkommt. In Klöstern wird für meinen Erfolg gebetet.

Wie stellen Sie eine Verbindung her zu den Tibetern in Tibet?

Sangay: Würden wir direkt Kontakt aufnehmen, wären sie in Gefahr. In dem Moment, in dem die chinesischen Behörden irgendeine Verbindung mit uns sehen – und sei es nur ein Blatt Papier oder ein Telefonat –, würden sie die Leute ins Gefängnis stecken. Wir dürfen also keinerlei direkten Kontakt unterhalten. Aber wir ermutigen alle, Schulen, Krankenhäuser, Altenheime usw. zu eröffnen.

Wie funktioniert die Aufgabenteilung zwischen dem Daila Lama und Ihrer Regierung?

Sangay: Von der Verfassung her und institutionell gibt es eine Trennung zwischen Staat und Kirche. Ich bin verantwortlich für politisch-administrative Angelegenheiten, und seine Heiligkeit ist das Oberhaupt des tibetischen Volkes. Er ist populärer und respektierter als irgendjemand anderer. Ich kann seinen Rat einholen, und dafür bin ich sehr dankbar. Aber wenn einmal eine Entscheidung getroffen ist, dann passiert das in meinem Namen. Die Vision seiner Heiligkeit ist eine tibetische Bewegung, die von einem demokratischen System angeführt wird.

Wie wichtig ist in diesem Zusammenhang die Nachfolgefrage?

Sangay: Dalai Lamas und das tibetische Volk sind untrennbar miteinander verbunden. Wir glauben, dass sich der Buddha des Mitgefühls – das mythologische Symbol von Tibet – in den Dalai Lamas manifestiert. Also ja, es wird eine Reinkarnation geben. Allerdings ist der gegenwärtige Dalai Lama (mit 84, Anm.) sehr gesund.

Wenn es so weit ist, wird China versuchen, die Entscheidung zu beeinflussen.

Sangay: Sie wollen ihren eigenen Dalai Lama ernennen. Der Dalai Lama wird dieses Mal aber außerhalb von China geboren. Die Idee der Reinkarnation ist, die Vision und die Mission des vorhergehenden Dalai Lama zu erfüllen. Wenn er also im Exil stirbt, wird er auch im Exil wiedergeboren. Wenn die chinesische Regierung einen anderen ernennt, wird sie null Glaubwürdigkeit und Legitimität haben.

Welche Entwicklung erwarten Sie in den kommenden Jahren?

Sangay: Ich werde immer gefragt, wie ich die Dinge realistisch einschätze. Aber wir haben es nicht mit rationalen Entscheidungen zu tun. Nur ein Jahr, bevor die Berliner Mauer gefallen ist, hat kein Experte das vorhergesagt. Alle, die rationale Kriterien angelegt haben, lagen falsch.

Schauen Sie in die Welt: Die Freilassung von Nelson Mandela, Nordirland, Osttimor – all das ist vor meinen Augen passiert. Deshalb ist das Glas für mich halb voll. Ich sage immer: Wir sind die Nächsten.

Aber falls Ihr Berliner-Mauer-Moment nicht kommt, wie lange können Sie dann den Status quo erhalten?

Sangay: Das jüdische Volk hat es ein paar tausend Jahre geschafft. Indien hat 250 Jahre unter britischem Kolonialismus erduldet.

Unsere Zivilisation ist sehr alt und sie wurzelt im Buddhismus. Wenn der Buddhismus 2500 Jahre überleben kann, dann wird auch die tibetische Zivilisation und Identität noch viele Jahrhunderte bestehen. Da bin ich mir absolut sicher.

Das Gespräch führte Floo Weißmann

Tibet, der Dalai Lama und sein Premier

Tibet bezeichnet geografisch das höchstgelegene Plateau der Welt in Zentralasien. Politisch war Tibet de facto ein unabhängiger Staat, als China das Gebiet 1951 unter militärischem Druck eingliederte. 1959 kam es zu einem Aufstand, den China mit Gewalt niederschlug. Der Dalai Lama, religiöses und damals auch politisches Oberhaupt der Tibeter, floh nach Dharamsala in Indien, wo bis heute die tibetische Exilregierung sitzt.

Völkerrechtlich gilt der Status von Tibet als umstritten. Der Großteil der etwa sieben Millionen Tibeter lebt heute in der 1,2 Mio. km² großen chinesischen Provinz Tibet.

Dalai Lama ist derzeit der 84 Jahre alte buddhistische Mönch Tenzin Gyatso. Er genießt weltweit Respekt und erhielt 1989 den Friedensnobelpreis. 2011 beendete er die Theokratie und installierte eine gewählte Regierung. Sie ist international nicht anerkannt, aber viele Staaten arbeiten mit ihr zusammen.

Lobsang Sangay, geboren 1968 in Indien, ist seit 2011 Ministerpräsident der tibetischen Exilregierung. Zuvor arbeitete er als Völkerrechtler an der US-Eliteuniversität Harvard. An seiner Wahl konnten nur Exiltibeter teilnehmen.

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