Gezi-Prozess: Nach Freisprüchen Ermittlung gegen Richter

Nach dem Freispruch des Intellektuellen Osman Kavala und acht weiterer Angeklagter in der Türkei im sogenannten Gezi-Prozess ist eine Untersuchung gegen die Richter eingeleitet worden. Der Rat der Richter und Staatsanwälte ermittle gegen die Mitglieder des 30. Gerichts für schwere Straftaten in Istanbul, das am Vortag die Urteile gefällt hatte, schrieb die Nachrichtenagentur Anadolu am Mittwoch.

Die Entscheidung zur Untersuchung kam nur wenige Stunden nachdem sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan zu den Freisprüchen geäußert hatte. Er bezeichnete die regierungskritischen Gezi-Proteste im Jahr 2013 als „niederträchtigen Angriff“ auf Staat und Volk.

Am Dienstag hatte ein Gericht in Silivri Kavala und acht weitere Angeklagte vom Vorwurf des Umsturzversuchs im Zusammenhang mit Gezi-Protesten freigesprochen. Das Gericht ordnete zudem Kavalas Freilassung nach mehr als zwei Jahren Untersuchungshaft an.

Kavala wurde aber sofort nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis wieder festgenommen und auf die Polizeidirektion in Istanbul gebracht. Ein Istanbuler Gericht verhängte am Mittwochabend wegen angeblicher Verbindungen zum Putschversuch 2016 Untersuchungshaft gegen Kavala, wie aus Gerichtsdokumenten hervorging, die die Deutsche Presse-Agentur einsehen konnte. Die Untersuchungshaft sei angeordnet worden, weil es „starke Beweis“ gebe, dass Kavala am Entscheidungsprozess des Putschversuchs beteiligt gewesen sei. Zudem bestehe Fluchtgefahr, argumentierte der Richter.

Die erneute Festnahme Kavalas löste große Empörung aus. Ein Sprecher des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell sagte am Mittwoch in Brüssel, diese beschädige die Glaubwürdigkeit des türkischen Justizsystems weiter. Als Beitrittskandidat der EU sowie als Mitglied des Europarats werde von der Türkei erwartet, höchste demokratische Standards zu erfüllen. „Juristische Verfahren können nicht als Mittel dafür benutzt werden, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen“, sagte er.

SPÖ-Menschenrechtssprecher Harald Troch plädierte dafür, dass mehr Druck auf die Türkei gemacht wird, damit das Land die Menschenrechte einhält. Dabei sei sowohl die EU als auch die österreichische Regierung gefragt. Die Türkei sei als Mitglied des Europarats auch zur Einhaltung menschenrechtlicher Standards verpflichtet. Derzeit würde das Land „europäische Werte mit Füßen“ treten. „Der Abbruch der Beitrittsverhandlungen wäre die logische Konsequenz,“ sagte Troch am Mittwoch.

Nach Angaben von Anadolu kündigte die Staatsanwaltschaft zudem an, Einspruch gegen die Freisprüche im Zusammenhang mit den Gezi-Protesten einzulegen. Erdogan selbst sagte am Mittwoch zu dem Prozess, ohne Kavalas Namen zu nennen: „Und mit einem Manöver haben sie gestern versucht, ihn freisprechen zu lassen.“ Was Erdogan damit meinte, war unklar.

Der türkische Präsident hatte Kavala in der Vergangenheit öffentlich vorgeworfen, die Gezi-Proteste mit der Unterstützung des ungarischstämmigen US-Philanthropen George Soros finanziert zu haben. Er sagte: „Wer die Gezi-Proteste als eine harmlose Umwelt-Bewegung bezeichnet, ist entweder unachtsam oder ist absichtlich ein Feind dieses Landes und Volkes.“

Kavala saß mehr als zwei Jahre lang im Hochsicherheitsgefängnis Silivri in Untersuchungshaft. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte schon im Dezember seine Freilassung angeordnet, die Türkei war dem aber zunächst nicht nachgekommen.

Die Gezi-Proteste vom Sommer 2013 hatten sich zunächst gegen die Bebauung des Gezi-Parks im Zentrum Istanbuls gerichtet. Die Aktion weitete sich aus zu landesweiten Demonstrationen gegen die autoritäre Politik des damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Präsidenten Erdogan. Der ließ die Proteste brutal niederschlagen. Mehrere Menschen starben bei den Demonstrationen, nach Angaben von Amnesty International mindestens vier an den Folgen von Polizeigewalt.

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