Tirol

„Rettet das Dorf": Weggehen, um ins Dorf heimzukehren

Zum Abschluss der Neuen Mittelschule besteigen die Kalser Schüler mit Bergführern den Großglockner. Dieses Erlebnis soll sie mit dem Ort verbinden.
© NMS Kals

Für Jugendliche hapert es am Land an Arbeit, Infrastruktur und Bildung, zeigt eine Studie. Tirols Gemeinden umwerben sie nun mit hippen Ideen.

Von Alexandra Plank

Innsbruck, Kals — „Rettet das Dorf", der Film, der diese Woche in den Kinos angelaufen ist (siehe Box), legt den Finger in eine Wunde: 40 Prozent der Gemeinden in Österreich stagnieren hinsichtlich Bevölkerung oder verlieren sogar Einwohner.

Die Dokumentation zeigt Menschen, die das Land nicht loslässt, wie den Außerferner Christian Wolf, der mit seinen Holzbrillen in Weißenbach im Außerfern 40 attraktive Arbeitsplätze geschaffen hat. Er kehrte nach dem Studium heim. Der Unternehmer lässt keinen Zweifel daran, dass sein Beharren, im Lechtal zu produzieren, aus ökonomischer Sicht unsinnig sei, er verkaufe jedoch nicht nur ein Produkt, sondern ein Lebensgefühl an Städter.

Dörfler und Städter brauchen sich

Innsbruck – Schon lange liegt das Thema der Landflucht, des Zerfalls von Dorfgemeinschaften in der Luft. Das Phänomen ist europaweit zu beobachten. Regisseurin Teresa Distelberger zeigt in ihrer Dokumentation „Rettet das Dorf“, wie wichtig ländliche Gebiete für den Einzelnen, aber auch für die Gesellschaft sind. Sie stellt quer durch Österreich verschiedenen Personen, wie einer Greißlerin oder einem Bürgermeister, die Frage: „Wie kann das lebendig bleiben, was ein Dorf ausmacht?“

Die 76-minütige Doku macht vielfach dort weiter, wo andere sich mit einer Bestandsaufnahme des Problems samt Jammern zufriedengeben. Distelberger beschreibt die Potenziale, die Dörfer bieten, und erzählt von Menschen, die mit ihren Ideen zu einer Entwicklung beitragen, die das Dorf weiterleben lässt. Ein Fazit des Films ist, dass sich Dörfler und Städter brauchen. Die Protagonisten des Films sind authentisch, die Aufnahmen – Kamera Niko Mayr – zeigen zwei Seiten einer Medaille: die Schönheit, die auch durch die Ruhe entsteht, und eine Ruhe, die Stillstand und Verfall bedeuten kann. Wärmste Empfehlung! (pla)

Der Innsbrucker Geograph Michael Beismann von regionalSynergie sieht für ländliche Gebiete gute Chancen. „Man muss aber den Schraubenzieher nehmen, um an Stellschrauben zu drehen, und nicht den Hammer." Die Digitalisierung spiele den Dörfern in die Hände, wobei Speckgürtelgemeinden als urban einzustufen seien. „Wir haben nachgewiesen, dass im gesamten Alpenraum seit einigen Jahren eine Bewegung von der Stadt aufs Land stattfindet." Allerdings müssten die Dörfer sich fit machen und eine Willkommenskultur pflegen, bevor die Auswirkungen der Abwanderung zu stark werden. Auch gesetzlich gelte es, die Ansiedlung am Dorf und die Reaktivierung bäuerlicher Leerstände zu vereinfachen.

In Mils setzt man seit einigen Jahren auf Innovation. So wurde mit dem Gemeindezentrum nicht nur eine Ortsmitte geschaffen, auch die alten Häuser werden erhalten. Seit eineinhalb Jahren gibt es einen Gemeinderatsausschuss, der sich der „Erhaltung des Dorfcharakters von Mils" widmet. Bürgermeister Peter Hanser ist auf das Projekt „betreutes Wohnen" besonders stolz. Es bietet 28 Wohnungen für ältere Menschen und ermöglicht ihnen, so lange wie möglich selbstständig zu leben.

An vielen Häusern nagt der Zahn der Zeit. Es braucht Menschen mit neuen Ideen und Menschen, die diese zulassen.
© Polyfilm

Hoch hinaus will die Gemeinde Kals. Jedes Jahr besteigt die Abschlussklasse der Neuen Mittelschule den Großglockner. „Das ist der Abschluss eines Pilotprojektes, bei dem von der Krabbelgruppe über Kindergarten, Volksschule bis zur Neuen Mittelschule alle in einem Bildungszentrum aufwachsen", sagt Bürgermeisterin Erika Rogl. Zwei Drittel des Gemeindegebietes sind Nationalpark, die Beschäftigung damit spielt für jedes Alter eine Rolle, zum Schluss winkt der Gipfelsieg. „Ich bleibe mit Studenten aus Kals in Kontakt und frage sie, was sie tun und ob sie sich vorstellen könnten, zurückzukommen", so Ragl. Für jene, die eine Familie planen, sei das attraktiv. „Unser Ziel ist, dass die Jungen wieder zurückkommen und bei uns neue Impulse setzen." Daher gibt es nicht nur günstige Gründe für Familien, auch über den Bau von Wohngemeinschaften wird nachgedacht. „Wir wollen Modelle der Stadt anbieten, gleichzeitig haben wir eine unglaubliche Landschaft und ein tolles Freizeitangebot." Laut Rogl spielt die Work-Life-Balance den Dörfern in die Hände, zudem sei Anwesenheitspflicht heute in vielen Berufen nicht mehr zwingend notwendig.

Der Liedermacher Reinhard Mey besang in einem Lied einst die Landflucht junger Leute, um mit der Stadtflucht zu enden. Das Resümee lautete: „Denk doch mal nach, dann siehst du es ein, du musst aufs Land, um in zu sein."

TT-ePaper jetzt 1 Monat um € 1,- lesen

Die Zeitung jederzeit digital abrufen, bereits ab 23 Uhr des Vortags.

Verwandte Themen