Israel: Balanceakt zwischen Überwachen und Grundrechten
Israels Botschafter Mordechai Rodgold über den Kampf gegen das Coronavirus, die Folgen und die besonders guten Beziehungen zu Österreich.
Von Christian Jentsch
Wien, Jerusalem – Es war laut Kanzler Sebastian Kurz ein Telefonat mit Israels Premier Benjamin Netanjahu, das ihn zu Beginn der Corona-Pandemie auf den Ernst der Lage aufmerksam gemacht und zu drastischen Maßnahmen veranlasst hat. Netanjahu, der mit Kurz ja auch schon vor der Corona-Krise besonders gut konnte, warnte, dass Europa die Gefahr unterschätze. Netanjahus Warnung war ein Weckruf, wie Kurz erklärte. Vergangenen Freitag beriet Kurz in einer Videokonferenz mit Netanjahu und den Regierungschefs aus weiteren fünf Ländern nun über eine geeignete Exit-Strategie.
Israel zählt in der Bekämpfung der Corona-Pandemie zu den Musterschülern. Bei einer Einwohnerzahl von rund 9,2 Mio. Menschen gibt es bisher rund 15.500 Infizierte, knapp über 200 Menschen sind bisher gestorben. Die Regierung hat rasch den Flugverkehr ins Land unterbunden und auf strikte Quarantänemaßnahmen gesetzt. Am 18. März wurde ein Lockdown verhängt. „Israel hat sehr früh reagiert und die Warnungen sehr ernst genommen. Wir waren von Anfang an wachsam“, erklärt Israels Botschafter in Österreich, Mordechai Rodgold, im Gespräch mit der Tiroler Tageszeitung. „Besonderes Augenmerk wurde darauf gelegt, Erkrankte zu isolieren und ihr unmittelbares Umfeld in Quarantäne zu schicken“, erklärt Rodgold. Israels Inlandsgeheimdienst Schin Bet setzte eine Überwachungstechnologie ein, die sonst zur Terrorbekämpfung dient. Dabei wurden per Notverordnung vor allem Mobiltelefone von Kranken überwacht, um zu erfassen, mit wem sie vor der Diagnose in Kontakt waren. Diese Menschen wurden dann per SMS gewarnt und aufgefordert, sich in Quarantäne zu begeben. Es gehe darum, Leben zu retten, wurden die drastischen Maßnahmen von offizieller Seite begründet.
Israels höchstes Gericht hat den Einsatz von Überwachungstechnologie mittlerweile vorerst verboten. Der Inlandsgeheimdienst Shin Bet darf Handys von Erkrankten erst dann wieder überwachen, wenn es eine entsprechende Gesetzgebung gibt, heißt es in dem Urteil. Die Überwachung stelle eine schwere Verletzung der Privatsphäre dar. Menschenrechtler hatten geklagt.
Für Israels Botschafter in Österreich manifestiert die öffentliche Debatte über die getroffenen Maßnahmen die lebendige Demokratie in Israel: „Wir sind ein demokratischer Staat. Und wir befinden uns in einem dynamischen Prozess. Wir müssen ein Gleichgewicht finden, in dem einerseits das Virus effektiv bekämpft werden kann und andererseits die Grund- und Freiheitsrechte der Bürger gewahrt bleiben.“ Rodgold betont darüber hinaus, dass in der neu gewählten Knesset (dem israelischen Parlament, Anm.) ein Ausschuss zur Corona-Krise gebildet wurde, in dem alle in die Knesset gewählten Parteien vertreten sind. In Bezug auf das Tracking der Mobiltelefone erklärt Rodgold, dass die Daten nur für die Gesundheitsbehörden bestimmt sind, nach einiger Zeit wieder gelöscht werden und nicht an die Polizei oder Justiz weitergegeben werden. Aber eine Debatte über die Rechtmäßigkeit müsse es geben.
Mittlerweile sucht auch Israel nach einer geeigneten Exit-Strategie. Kleine Straßengeschäfte durften unter strengen Auflagen wieder öffnen, doch es gelten weiterhin Ausgangsbeschränkungen. „Auch wir kämpfen mit gewaltigen wirtschaftlichen Herausforderungen. Die meisten Israelis arbeiten in der Industrie, in der Landwirtschaft oder im Tourismus. Und da sind viele Unternehmen in ihrer Existenz bedroht. Viele Arbeitnehmer haben ihre Jobs verloren“, so Rodgold. In Israel gibt es freilich auch eine innovative Hightech-Industrie, die auf die Corona-Krise reagiert. So erwähnt der Botschafter etwa das Start-up-Unternehmen Facense, das leichte „Smartglasses“ entwickelt hat, deren Sensoren Covid-19-Symptome erkennen und Vitalfunktionen aus der Ferne messen.
Israel hat gestern mit Sirenengeheul seiner getöteten Soldaten und Terroropfer gedacht. Gestern Abend begann auch der 72. Unabhängigkeitstag Israels. Diesmal ganz ungewohnt. Ähnlich wie in der Pessachwoche waren die Bürger angehalten, ihre Häuser nicht zu verlassen. Für Botschafter Rodgold schmerzhafte, aber notwendige Einschnitte. Eines steht für ihn aber fest: „Die Beziehungen Israels zu Österreich waren noch nie so gut. Und sie können noch weiter ausgebaut werden.“