Coronavirus

Ex-Corona-Taskforce-Mitglied Sprenger: Der Regierung fehlt „weiter Blick“

Martin Sprenger ist Mediziner und Public-Health-Experte. Er war Mitglied in der Corona-Taskforce des Gesundheitsministeriums.
© Christian Jungwirth

Aus Sicht des Public-Health-Experten Martin Sprenger befindet sich Österreich im Kampf gegen Corona längst auf „trockener Straße, aber die Regierung verordnet Schneeketten“.

Österreich hat zu Beginn der Corona-Krise gut reagiert. Die Ausbreitung der Infektionen konnte weitgehend unterbunden werden. Doch auch heute noch sprechen wir von einer Pandemie, von einer drohenden zweiten Welle. Wäre es nicht längst an der Zeit, sich mit den sozialen, psychischen und ökonomischen Auswirkungen der Pandemie zu befassen und gegenzusteuern?

Martin Sprenger: Sie haben Recht, Österreich reagierte sehr gut auf die Auswirkungen der Krise. Wir waren in der Taskforce mit einer sehr guten wissenschaftlichen Expertise ausgestattet. Wir hatten die besten Virologen im Team. Die Kommunikation der Bundesregierung funktionierte geradezu perfekt.

Damals hieß es immer, alle Maßnahmen, die ergriffen werden, verfolgen ein klares Ziel – nämlich das Gesundheitssystem vor einem Kollaps zu schützen.

Sprenger: Der verordnete Lockdown hatte nur diesen einen Grund. Und es war richtig so, den Lockdown durchzuführen. Doch wir haben bereits Ende März unser Ziel erreicht. Uns war allen klar, die Maßnahmen greifen, die Infektionszahlen sind rückläufig, das Gesundheitssystem ist weit von einem Kollaps entfernt. Deshalb hätten wir Ende März/Anfang April damit beginnen müssen, die Pandemie nicht mehr nur unter virologischen und medizinischen Aspekten zu betrachten. Da hätten wir einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs eröffnen müssen. Doch so gut die Regierung bis Ende März agiert hat, so muss auch kritisiert werden, dass sie es verabsäumt hat, mit 30. März den Schalter vorsichtig umzulegen.

Zur Person

Martin Sprenger ist ausgebildeter Allgemeinmediziner, er war unter anderem als Notarzt tätig. Nach seinem Medizinstudium absolvierte er in Neuseeland die Ausbildung zum Master of Public Health. Er ist seit 2010 Leiter des ULG Public Health an der MedUni Graz. Seit 2014 ist er Mitglied des European Forum for Primary Care. Er hat Anfang April seine ehrenamtliche Funktion als Mitglied des Corona-Expertenrats zurückgelegt.

Stattdessen wurde das Angstszenario erhöht. Bundeskanzler Sebastian Kurz und Vizekanzler Werner Kogler sprachen zu diesem Zeitpunkt davon, dass 100.000 Tote in Österreich drohen könnten. Dieses Angstszenario bestimmt weiter die Öffentlichkeit, wenn man etwa daran denkt, dass vor wenigen Tagen erstmals in der Zweiten Republik Milizsoldaten im Einsatz sind.

Sprenger: Ich war bei der entscheidenden Sitzung am 12. März dabei. Da war das Bedrohungsszenario völlig adäquat. Doch ab 30. März hatte man das Angstlevel vorsichtig zurückfahren müssen. Ab Ostern hätten wir die Angst aus den Köpfen der Menschen bringen können. Doch noch heute trauen sich Menschen nicht, die eine medizinische Versorgung benötigen, in Spitäler zu gehen.

Sie sprechen damit die Kollateralschäden an.

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Sprenger: Wir nennen dies in der Wissenschaft „Gesundheitsfolgenabschätzung“. Es gilt dabei, alle Wirkungen und Auswirkungen von gesundheitspolitischen Maßnahmen abzuschätzen. Spätestens Anfang April hätte man versuchen sollen, smart den Weg aus der Pandemie zu beschreiten. So hätten wir im sozialen, psychischen, pädagogischen und ökonomischen Bereich Kollateralschäden verringern können. Doch dafür braucht man einen weiten Blick. Diesen hat aber die Bundesregierung nicht zugelassen und auch nicht haben wollen. Das kann man ihr vorwerfen.

Sind Sie überrascht, wie leicht es eigentlich war, die Bevölkerung so einzuschüchtern und zu bevormunden? Ich denke jetzt auch daran, dass uns die Regierung ab 15. Mai nur bis 23 Uhr einen Gasthausbesuch gewährt. Das Virus ist ja nicht nachtaktiv.

Sprenger: Ich wiederhole mich: Anfangs war es gut und richtig, klar zu kommunizieren, was auf dem Spiel steht. Doch wenn man nun erwachsene Bürger um 23 Uhr nach Hause schickt, dann muss man das erklären. Vielleicht gibt es Gründe der Regierung, wissenschaftlich ist das nicht zu begründen. Wir haben eine Regierung, die verkündet, aber nicht erklärt. Das hat aber mit einer Demokratie und einer freien Gesellschaft nichts gemein.

Es wird auch kein Widerspruch geduldet.

Sprenger: Die Erzählung der Regierung ist folgende: Alles wurde perfekt durchgeführt. Das stimmte anfangs ja. Und jetzt wird erzählt, dass die perfekte Geschichte weiter ihren Lauf nehmen muss. Doch jetzt ist vieles nicht mehr perfekt. Aber wer diese erzählte Geschichte nicht akzeptiert, sie gar hinterfragt, wird diskreditiert. Das ist in einer freien Gesellschaft unangebracht. Wir sind längst auf einer trockenen Straße unterwegs, aber die Regierung will nicht nur, dass wir mit Schneeketten unterwegs sind, sie verordnet sogar die Schneekettenpflicht.

Schweden geht hier einen anderen Weg.

Sprenger: Welche Strategie letzten Endes die bessere war, kann man nur rückblickend beurteilen. Dafür braucht es eine offene Analyse. Nur mit dem Zählen von Toten kommt man da nicht weiter. Da braucht es auch eine Bewertung von verlorenen Lebensjahren, von ökonomischen Auswirkungen und vielem mehr. Schweden hat offen zugegeben, dass sie anfangs einen Fehler beim Schutz von Altenheimen gemacht haben. Schweden hat sich dafür entschuldigt. In Österreich entschuldigt sich niemand. In Schweden wird täglich erklärt, warum etwas passiert, warum etwas funktioniert oder nicht funktioniert. In Schweden wird Widerspruch gewünscht und eingefordert – in Österreich nicht. In Schweden bekommt man alle Daten, in Österreich nicht. In Schweden ist der Kampf gegen die Pandemie eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, in Österreich gibt es eine Regierungserzählung.

Sie sind wegen eines Interviews mit Addendum in der Regierung in Ungnade gefallen.

Sprenger: Ich habe freiwillig die Taskforce verlassen. Mich hat das wissenschaftlich nicht haltbare Papier mit den 100.000 Toten geschockt. Zudem wollte man keinen interdisziplinären Diskurs zulassen. Wir führten gegen das Virus bereits 10 zu null. Und wir haben leider den Vorsprung nicht halten können, da wir zu lange die Probleme in der Regelversorgung und die sozialen und ökonomischen Nebenwirkungen der Maßnahmen nicht beachtet haben.

Das Gespräch führte Michael Sprenger

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