Wenn Eltern psychisch krank sind: Das Kind unter dem Löwen unterstützen
Jedes fünfte Kind hat einen Elternteil, der psychisch erkrankt ist. Im „Village“-Projekt werden individuelle Wege gesucht, um diese „Löwenkinder“ zu unterstützen und zu entlasten.
Von Theresa Mair
Innsbruck – Es braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen. So lautet ein afrikanisches Sprichwort. Viele Menschen haben – manchmal auch unbewusst – Anteil daran, wie Kinder in ihrem Umfeld aufwachsen. Diese Beziehungen zu Verwandten, Nachbarn, Freunden, Lehrern usw. zu fördern ist ein wesentlicher Teil von „Village“ (dt. Dorf). Das Forschungsprojekt widmet sich Kindern, von denen ein Elternteil psychisch erkrankt ist.
„Löwenkinder“ nennen die Mitarbeiter des Projekts diese Kinder, die nach außen oft besonders stark wirken. Der Begriff wurde von Personen entwickelt, die mit einem psychisch erkrankten Elternteil aufgewachsen sind. Wenn es Mama oder Papa nicht gut geht, übernehmen „Löwenkinder“ häufig Erwachsenen-Aufgaben – erledigen Hausarbeiten, organisieren den Alltag oder kümmern sich um Geschwister. Einige machen das gern und stecken das weg, andere belastet die Situation aber auch.
„Der Löwe ist nur ein Kostüm. Wenn sie es ausziehen, sind darunter immer noch Kinder“, sagt Sozialwissenschafterin Jean Paul. Sie leitet das internationale Forschungsprojekt, das von der Ludwig-Boltzmann-Gesellschaft initiiert wurde und in Innsbruck am Department für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Med-Uni eingebettet ist. Gemeinsam mit den psychiatrischen Abteilungen der Krankenhäuser Zams und Hall sowie niedergelassenen Psychiatern und Allgemeinmedizinern suchen sie nach Wegen, betroffenen Familien zu helfen und Kinder zu entlasten. „In erster Linie geht es darum, dass die Ärzte alle ihre Patienten – Männer und Frauen – im Rahmen der Anamnese fragen, ob sie Kinder haben. Das ist oft schwierig für beide, den Arzt und die Betroffenen“, sagt Paul. Im Zuge des Projekts wurde dieser Punkt in das elektronische Abfragesystem integriert.
Begriffserklärung und neues trialogisches Beratungsangebot
Psychiater: Mediziner mit Schwerpunkt auf psychische und körperliche Prozesse. Die Therapie kann auch medikamentös erfolgen.
Psychologe: Setzt sich mit dem psychischen Erleben und Verhalten auseinander und darf keine Medikamente verordnen. Klinische und Gesundheits-Psychologen sind berechtigt, Patienten eigenständig zu behandeln.
Psychotherapeut: Eigenständige Berufsausbildung, die von Therapievereinen organisiert wird. Unter www.psychotherapie.at findet sich eine Beschreibung der anerkannten Therapierichtungen. Quelle: psychiatrie.tirol-kliniken.at
Beratungsstelle: Für alle Menschen in psychischen Krisen gibt es seit 1. Juli ein kostenloses trialogisches Beratungsangebot von Betroffenen (Erfahrungsexperten und Angehörige) und Psychotherapeuten für Betroffene und Angehörige. Adresse: Bürgerstr. 12/1. Stock in Innsbruck. Terminvereinbarung: Tel. 0677/64058230
„Wenn wir über Kinder von psychisch erkrankten Menschen reden, ist das ein recht heikles Thema. Erziehungsfähigkeit ist bei uns eine sehr moralische Angelegenheit, die wenig pragmatisch gesehen wird. Weil man den Eltern das Thema nicht zumuten möchte, verschwinden die Kinder aber aus dem Fokus“, erklärt Martin Kurz, Leiter der psychiatrischen Abteilung in Zams. Indem die Frage nach der Elternschaft ins Arzt-Patienten-Gespräch einfließt, verhindere man, dass man die Kinder aus den Augen verliert.
Kinder sind loyal ihren Eltern gegenüber. Man dürfe nicht erwarten, dass sie sich von sich aus vertrauensvoll an jemanden wenden, wenn sie sich überfordert fühlen oder es ihnen nicht gut geht. Zusätzlich brennt noch immer das Stigma von psychischen Erkrankungen. Es fällt nicht leicht, darüber zu reden.
Hier setzt das „Village“-Projekt an. Teilnehmende Familien setzen sich mit einer von derzeit sechs Koordinatorinnen zusammen – zuerst die Eltern, dann die Kinder.
Gemeinsam wird geschaut, wer im individuellen Umfeld für das Kind da ist und in ein „informelles Unterstützungsnetz“ eingegliedert werden kann. „Das kann ein Onkel sein, der ab und zu bei den Hausaufgaben hilft, eine Nachbarin, die öfters vorbeischaut, oder die Oma, die eine Geschichte vorliest“, sagt Paul. Diese Personen werden dann zu einem Netzwerktreffen eingeladen. Die Kinder sollen Unterstützung erfahren und lernen, bei wem sie diese finden können. „Es bringt Menschen an einen Tisch, die dann merken, dass sie einen Beitrag leisten können und gebraucht werden. Die Betroffenen merken, dass sie nicht allein sind. Für die Eltern hat das den Vorteil, dass sie aus dem Tabu und der Einsamkeit herauskommen, wenn sie mit Offenheit über ihre Krankheit sprechen“, erklärt Kurz.
Er betont, dass es sich hierbei noch um gar keine therapeutische Maßnahme handelt, sondern um Solidarität und Prävention. Es soll gar nicht so weit kommen, dass die Kinder leiden, verhaltensauffällig oder selbst krank werden. Nur wenn es nötig und gewünscht ist, kann dann noch ein formelles Netz aktiviert werden, etwa eine Erziehungsberatung oder Unterstützung von der Kinder- und Jugendhilfe. Nach drei und nach sechs Monaten trifft sich die Gruppe wieder, um Bilanz zu ziehen und nachzubessern.
Für den Forschungsteil füllen die Teilnehmenden Fragebögen aus, vereinzelt werden auch Interviews geführt. Seit Beginn der Familienarbeit im Dezember nehmen bereits 13 Familien teil. Bis zum Ende des Projekts Anfang 2022 hofft Paul auf 200 Teilnehmende. Forschungsziel ist, herauszufinden, was die Kinder und Eltern als unterstützend und fördernd erleben, und die Netzwerkarbeit nachhaltig zu etablieren. Das Angebot richtet sich an Familien mit Kindern von vier bis 18 Jahren mit einem Elternteil, der eine diagnostizierte psychische Erkrankung hat.
Interessierte können für weitere unverbindliche Informationen Projektkoordinator Philipp Schöch unter Tel. 0676/5800490 oder ihren Arzt kontaktieren. Infos im Internet unter: village.lbg.ac.at