Alles beim Alten: EU-Gipfel und keine Spur von Normalität
Corona-Pandemie, Streit um Rechtsstaatlichkeit und Migration sowie der Konflikt mit der Türkei holen Europa ein.
Von Christian Jentsch
Brüssel – Kommenden Donnerstag und Freitag kommen die Staats-und Regierungschefs der 27 EU-Staaten zu einem Sondergipfel in Brüssel zusammen. Laut der ursprünglich geplanten Tagesordnung hätte am Gipfel über den Binnenmarkt, die Industriepolitik, den digitalen Wandel und die Außenbeziehungen, insbesondere die Beziehungen zur Türkei und zu China, beraten werden sollen.
Das Ziel: Wieder eine gewisse Normalität jenseits der Corona-Krise zu signalisieren. Doch die europweit stark steigenden Fallzahlen von Corona-Infektionen, die Migrationskrise sowie eskalierende Konflikte rund um Europa und Streitigkleiten innerhalb der Union haben die EU längst wieder eingeholt. Von Normalität keine Spur.
1. Corona: Am Beginn der Corona-Pandemie haben Grenzschließungen zwischen den EU-Ländern an den Grundfesten der EU gezerrt. Aber auch jetzt – rund ein halbes Jahr später – ist von einer gemeinsamen europäischen Strategie wenig zu sehen, nationale Alleingänge auch in Sachen Reisewarnungen beherrschen das Bild. Bei der Impfstoffbeschaffung wurde freilich ein gemeinsames Vorgehen vereinbart.
2. Migration: Abseits von Corona ist vor allem das Migrationsthema wieder in den Mittelpunkt gerückt. Vor allem nachdem die EU-Kommission vor einer Woche ihre Vorschläge für eine Asylreform präsentiert hat. Die Pläne sehen etwa vor, dass Länder wie Italien und Griechenland mit einer starken Unterstützung bei der Rückführung von Menschen ohne Bleiberecht entlastet werden sollen. Zudem soll es einen verpflichtenden Solidaritätsmechanismus geben. EU-Länder, die keine Migranten aufnehmen möchten, müssen etwa bei Rückführungen mithelfen. Von den Visegrad-Staaten, die sich bisher beim Finden einer Lösung quergelegt haben, kam umgehend ein Njet.
3. Rechtsstaatlichkeit: Im Streit um die geplante Bestrafung von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU hat die derzeitige deutsche EU-Ratspräsidentschaft Anfang dieser Woche einen Kompromissvorschlag vorgelegt, der die Verhängung von Finanzsanktionen gegen Länder wie Ungarn und Polen deutlich unwahrscheinlicher macht, als es ursprünglich von der EU-Kommission angedacht war. Brisant ist das Thema vor allem, weil ohne Einigung auf den Rechtsstaatsmechanismus eine Blockade des langfristigen EU-Haushalts und des 750 Mrd. Euro schweren Corona-Konjunkturprogramms droht. Europaabgeordnete laufen allerdings gegen eine Abschwächung der Maßnahmen Sturm.
Ungarns Premier Viktor Orbán hat gestern den Rücktritt der Vizepräsidentin der EU-Kommission, Vera Jourova, verlangt. „Indem die Kommissionsvizepräsidentin Ungarn eine „kranke Demokratie“ nannte, hat sie Ungarn und die ungarischen Menschen beleidigt“, schrieb Orbán in einem Brief an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Jourova, die auch EU-Kommissarin für Werte und Transparenz ist, hatte in einem Interview mit dem Spiegel den Zustand der ungarischen Medienlandschaft als „alarmierend“ bezeichnet.
4. Türkei: Viel Raum soll auch der Konflikt mit der Türkei über die Suche nach Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer einnehmen. Griechenland und die Türkei standen in den vergangenen Wochen am Rande eines Krieges, Griechenland und Zypern fordern Sanktionen gegen Ankara. Und nun mischt sich die Türkei auch massiv in den Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien um die Region Berg-Karabach ein.
5. Brexit: Unter großem Zeitdruck versuchen die EU und Großbritannien seit gestern doch noch einen Handelspakt nach dem Brexit zustande zu bringen. Es gibt freilich weiter Streit über britische Gesetzespläne, die den bereits gültigen Brexit-Vertrag zum Teil aushebeln sollen. Das Unterhaus in London sollte gestern Abend darüber abstimmen.
6. Weißrussland: EU-Ratspräsident Charles Michel will beim Gipfel eine Einigung zu den Sanktionen zu Weißrussland erzielen. Gestern traf Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Litauen die weißrussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja.